Präsentismus: Arbeiten trotz Krankheit/ärztlicher Krankmeldung

  • Ihre Meinung? Ihre Erfahrung ist?


    Sehr geehrte Damen und Herren

    Ich möchte mit Ihnen eine landesweite Diskussion anstoßen und das öffentliche Bewusstsein schärfen.

    Ich arbeite im HR einer großen, international tätigen Unternehmen und ich sehe hier das negative Phänomen: Präsentismus. „Arbeiten trotz Krankheit“ ist ein zentrales Problem in Unternehmen und in weiterer Folge von ganzen Volkswirtschaften. Das Thema ist innerbetrieblich wohl bekannt.

    Meine Erfahrung zeigt: Nicht der Arbeitnehmer ist in der Regel übereifrig mit Präsentismus am Werk. Es sind in erster Linie die im Unternehmen fehlenden Rahmenbedingungen, die zu diesem negativen Phänomen hinführen: keine effiziente Stellvertreterregelungen, zu viel Stress, zu viel Arbeit, der Druck von Vorgesetzten, zu viel zum Aufarbeiten, wenn man wieder zurück im Büro ist. Vor allem Mitarbeiter, die - über Ziele geführt - mehr oder weniger selbstverantwortlich arbeiten, sind besonders betroffen.

    Das Phänomen „Arbeiten trotz Krankheit“ wird zusätzlich durch die moderne Bürotechnik getragen, die das Arbeiten von überall ermöglicht, so auch während ärztlich verordneten Krankschreibungen von zu Hause aus. Dies mag eine weitere Erklärung für das akute Problem sein. Eine Rechtfertigung für das Ausblenden von Arbeitgeberpflichten ist es nicht.

    Aus meiner langjährigen Berufspraxis sehe ich das folgendes Hauptproblem; und ich übertreibe nicht wenn ich sage, ich sehe es täglich: Die immer öfter und leider immer konsequenter ausgeblendete Arbeitgeberpflicht. Ich möchte an dieser Stelle die Arbeitgeberpflichten nicht aufzählen. Sie sind in diesem Kreis bekannt.

    Meine berufliche Erfahrung zeigt: „Arbeiten trotz Krankheit/Krankschreibung“ ist gängige Praxis. Sie ist keine Ausnahme. In aller Regel ist sich der Arbeitgeber/der Vorgesetzte darüber voll im Klaren. Er agiert aber nicht. Im Gegenteil: Die Erwartungshaltung der Führungskräfte geht heute klar in Richtung: Arbeiten – von zu Hause aus – auch dann, wenn man krank ist, auch dann wenn der Mitarbeiter vom Arzt krankgeschrieben ist. Der Computer und die schnelle Internetverbindung vom (Groß)-Unternehmen ins private Heim machen dies möglich. „Checken Sie mindestens Ihre Emails von zu Hause aus.“

    Meine Erfahrung zeigt, nicht der Arbeitnehmer ist es, der sich für unabkömmlich hält. (Ausnahmen mag es geben). Es sind vor allem die vom Unternehmen verantworteten Rahmenbedingungen die Arbeitnehmer in die auswegslose Situation bringen, des zwar „Nein sagen“ wollen aber nicht mehr können. Dies auch unter dem Aspekt, dass der Arbeitgeber/Vorgesetzte oft unüberlegt schnell die Diagnose eines sinkenden Commitment beim Mitarbeiter ausmacht, wenn dieser nicht bereit ist, trotz Krankheit/Krankschreibung von zu Hause aus zu arbeiten, wo er dafür doch die IT-Infrastrukur (sprich den Zugriff aufs Firmennetzwerk) vom Unternehmen gestellt bekommt.

    Alle Burn-out-Fälle, stressbedingte Komplikationen, etc. mit denen ich mich berufsbedingt befasse, zeigen hier ein eindeutiges Bild. „Arbeiten trotz Krankheit/Krankschreibung“ ist in zu vielen Fällen ein Bestandteil des Problems. Es wäre deshalb höchst angebracht, dieses Thema mehr in die Öffentlichkeit – und wieso nicht – vor die Arbeitsgerichte zu bringen. Ich bin überzeugt: Bahnt sich das Thema seinen Weg in die Öffentlichkeit und wird hier das Bewusstsein geschärft, so würde sich die innerbetriebliche Situation langsam zu ändern beginnen. Ich bin überzeugt, die HR-Abteilungen unterstützen diesen Prozess.

    Was ist Ihr Erfahrung? Ihre Meinung?

    PS
    Was sagen Ärzte-Organisationen zu diesem akuten Problem? Was ist eine ärztliche Krankschreibung heute wert? Wie ernst zu nehmen ist die Weisung eines Arztes?

    Siehe auch Arbeitsrechtliche Fragen bei Präsentismus:
    http://www.zhaw.ch/fileadmin/u…4sentismus_ARV_1_2012.pdf

  • Zitat von Norbert1965 :


    Was sagen Ärzte-Organisationen zu diesem akuten Problem? Was ist eine ärztliche Krankschreibung heute wert? Wie ernst zu nehmen ist die Weisung eines Arztes?


    Sehr geehrter Norbert1965,

    warum stellen Sie diese Frage(n) nicht den vielfältigen Ärzte-Organisationen?

    Zitat von Norbert1965 :

    Siehe auch Arbeitsrechtliche Fragen bei Präsentismus:
    http://www.zhaw.ch/fileadmin/u…4sentismus_ARV_1_2012.pdf

    Ich weiß ja nicht, wie´s andere TE sehen, aber ich steh darauf, arbeitsrechtliche Fragen auf Basis der länderspezifischen gesetzlichen Regelungen zu klären. Ein Link aus der Schweiz ist da wenig hilfreich.

    Ich frage mich allerdings, welches Interesse ein langjähriger HR-MA eines großen internationalen Unternehmens daran hat, eine landesweite Diskussion zu diesem Thema anzustoßen.
    Auch würde mich interessieren, welche Maßnahmen in Ihrem Unternehmen getroffen wurden, diesem Phänomen "Präsentismus" entgegen zu wirken.

    MfG
    Kokomiko

  • Ihre Meinung?

    Lieber Kokomiko

    Danke für Ihre Reaktion.

    Den Link habe ich deshalb eingefügt, weil ich diesen Beitrag im Internet zum Thema "Arbeitsrecht und Präsentismus" gefunden habe. Das Thema Präsentismus ist zwar bekannt aber das Thema Arbeitsrecht wird noch nicht häufig besprochen.

    In meinem Unternehmen (obwohl ein Grossunternehmen) wird die Situation geduldet, dass Mitarbeiter trotz Krankheit/Krankschreibung arbeiten. Offiziell ist HR nicht dafür. Es ist aber ein Unterschied ob man nur nicht dafür ist oder dagegen konsqunet vorgeht. Das Arbeitsrecht spielt dabei eine wichtige Rolle.

    Danke für Ihre Reaktion
    Norbert

    PS
    Ihre Anregung, Ärzte-Organisationen in die Diskussion mit einzubeziehen, halte ich für sinnvoll. Es ist halt immer eine Gradwanderung. In meiner Position - die ja eher und machen wir uns bitte nichts vor, auf seiten des Unternehmens zu stehen hat - wird man dafür schnell als Nestbeschmutzer angesehen. Auf Betreibsratsseite - so erlebe ich das - kann man solche ein Thema ohne mahnende Rücksicht auf die "gerade angespannte" Unternehmenssituation behandeln.

  • Zitat von Norbert1965 :


    In meinem Unternehmen (obwohl ein Grossunternehmen) wird die Situation geduldet, dass Mitarbeiter trotz Krankheit/Krankschreibung arbeiten. Offiziell ist HR nicht dafür.


    Naja, hier muss man schon noch fein säuberlich unterscheiden. Arbeiten trotz Krankheit ist etwas anderes, als Arbeitsaufnahme vor Beendigung einer ärztlich bescheinigten AU.

    Einem AN wird prinzipiell nur die voraussichtliche Dauer einer Arbeitsunfähigkeit bescheinigt. Sobald der AN wieder am Arbeitsplatz erscheint, ist zunächst mal von der schnelleren Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit auszugehen.
    Hat der AG begründete Zweifel daran, dass der AN tatsächlich genesen ist, ist er im Rahmen seiner Fürsorgepflicht verpflichtet, die Annahme der Arbeitsleistung zu verweigern.

    Stellt ein AG fest, dass ein AN trotz offensichtlicher gesundheitlicher Einschränkung nicht in der Lage ist, seiner Tätigkeit nachzukommen, greift ebenfalls die Fürsorgepflicht. Diesen AN muss er entweder nach Hause bzw. zum Arzt schicken oder einen leidensgerechten Arbeitsplatz schaffen, falls es um eine dauerhafte Einschränkung geht.

    Schön zu lesen, dass die Fürsorgepflichten des AG in Ihrem Unternehmen von HR gesehen und "befürwortet" werden. Aber inoffiziell scheint HR sein "Human Capital" trotzdem möglichst ohne Reibungsverluste nutzen zu wollen. Die Aussage " Offiziell ist HR nicht dafür." darf man vermutlich unter "Bigotterie" verbuchen.

    Zitat von Norbert1965 :

    Das Thema Präsentismus ist zwar bekannt aber das Thema Arbeitsrecht wird noch nicht häufig besprochen.

    Diese Aussage kann ich nicht nachvollziehen, da beide Themen unabdingbar miteinander verknüpft sind. Gesundheitsschutz von AN ist im Arbeitsrecht eines der zentralsten Themen! Nur wird "Präsentismus" in z.B. Arbeitsrechts-/Betriebsratsforen eher selten unter diesem Namen diskutiert. Das Thema an sich aber schon und auch regelmäßig.

    Es gibt dazu übrigens eine sehr umfassende Studie von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsgesundheit: http://www.baua.de/de/Publikat…_blob=publicationFile&v=6

    Meine Nachfrage, welche Intention Sie treibt und was Ihr Unternehmen unternimmt, das Phänomen "Präsentismus" zu bekämpfen, ist trotzdem nicht beantwortet. Also bitte "Butter bei die Fische"

    Gruß
    Kokomiko

  • Ihre Meinung?

    Lieber Kokomiko

    Welche Intention treibt mich:
    Arbeitsrechtlich ist vieles eindeutig geregelt bzw. wird in der Praxis auch eingehalten. Beim Thema Präsentismus jedoch sehe ich in der Praxis eine gr. Grauzone. Meine Intention ist innerbetrieblich die nicht vorhandenen Rahmenbedingungen anzusprechen, die zu diesem negativen Phänomen führen. Wie gesagt, es ist in der Regel nicht der - im negativem Sinne - übereifrige AN, der immer und überall arbeiten will. Es sind die fehlenden Rahmenbedingungen, die ihm oft keine Wahl lassen. Außerbetrieblich versuche ich mehr Bewusstsein zu schaffen.

    Was tut mein Unternehmen:
    Aktiv nichts. Das mag Sie jetzt wundern, aber es ist so.
    Wenn HR von Fällen weiß (und ich meine hier auch die Leitung von HR), werden diese Fälle zur Kenntnis genommen. Führungskräfte werden aber nicht zur Rechenschaft gezogen, sodass sie gezwungen sind, Verbesserungen herbeizuführen. Der AN selber geht gegen seinen Vorgesetzten in der der Regel auch nicht vor. Dafür sind der Druck und die Angst zu gross.

    PS
    Die Aussage "Offiziell unterstützt HR Präsentismus nicht" ist keine Bigotterie. Es ist Fakt.

  • Zitat von Norbert1965 :

    Meine Intention ist innerbetrieblich die nicht vorhandenen Rahmenbedingungen anzusprechen, die zu diesem negativen Phänomen führen.


    Wir scheinen uns ja einig darüber zu sein, dass der Gesetzgeber genügend "Rahmenbedingungen" vorgegeben hat, also kann es nur um die innerbetriebliche Einhaltung dieser gehen.

    Falls es einen BR geben sollte, hat dieser mehr als einen BetrVG Paragraphen an der Hand, die Einhaltung der arbeitsschutzrechtlichen Gesetzgebung verlangen/kontrollieren zu können.

    Zitat von Norbert1965 :


    Die Aussage "Offiziell unterstützt HR Präsentismus nicht" ist keine Bigotterie. Es ist Fakt.

    Bigott ist, als HR Präsentismus offiziell nicht zu unterstützen, aber auf Führungskräfte mit Personalverantwortung nicht entsprechend einzuwirken. Ist wie mit einem Fisch, der immer vom Kopf her stinkt.

    Es würde mich wundern, wenn ein international aufgestelltes Unternehmen nicht so etwas wie "Ethikrichtlinien" nieder geschrieben hat. So kenne ich Unternehmen, welche die Einhaltung solcher Kodizes in eine MA-Bewertung einfließen lassen oder diese Bestandteil einer Zielvereinbarung sind.

    Gruß
    Kokomiko

  • Hallöchen


    Also mich würden mal die zitierten „Rahmenbedingungen“ interessieren. Was genau ist denn darunter zu verstehen?

    Grundsätzlich gibt es ja schon einen Rahmen - nämlich das Gesetz .

    Darüber hinaus kann man kaum Pauschalregelungen finden. Jedes Unternehmen und auch jeder Krankheits/Präsentismusfall ist individuell.

    Ich denke schon daß es ein Unterschied ist, ob jemand mit Magen/Darm-Grippe in die Firma kommt und den Rest der Welt auch ansteckt - oder an einer Maschine zu arbeiten hat
    Oder
    Ob ein „Laptop-Besitzer“ mit gebrochenem Bein zu Hause liegt und sich langweilt (ob der im Liegen arbeiten kann, lassen wir mal dahin gestellt)
    ... ich denke es ist schon klar was ich mit diesen zwei Beispielen ausdrücken will


    Wie gesagt ist das alles sehr individuell, aber ich denke, es gibt hier zwei Hauptverursacher:
    A. Personalplanung / kein Stellvertreter (von Norbert1965 ebenfalls erwähnt)
    B. in der Persönlichkeit des Mitarbeiters


    zu A: kann ich nur sagen -die Personalplanung liegt beim AG, nicht beim Mitarbeiter. Solange alles läuft, wird die GL niemals aufmerksam - erst wenn es in die berühmte Hose geht und eine Abteilung brach liegt, wird jemand eingestellt.


    B: EIGENVERANTWORTUNG!
    Sicher gibt es auch hier sehr individuelle Ansätze, aber in der Regel reden wir von erwachsenen Menschen und es ist auch immer noch jeder selbst für sich verantwortlich.
    Wenn ein „Senior Header of Heads & Assistant to Vice President of Something for EMEA“ nicht den Mut hat seinen Laptop abzuschalten, dann ist das sehr bedauerlich.
    Hier gibt es nur eins: auf die Leute einwirken, sich mal zu fragen, womit sie der Firma mehr dienen: Krank ins Büro kommen und dann länger ausfallen (weil Krankheit verschleppt) - oder einfach gleich richtig auskurieren
    Manchmal muß man die Leute halt zu ihrem Glück zwingen - wichtig dabei: die Konsequenzen /Auswirkungen aufzeigen.


    Fragen an Norbert1965:
    Aus dem Beitrag schließe ich, daß das Problem in Ihrer Firma bzw von Ihnen erkannt ist, aber was genau tun Sie dagegen?
    Wozu brauche in an dieser Stelle das Arbeitsgericht?
    Wieso sollte man nicht auf die Anweisung seines Arztes hören? (Wenn ich mehr weiß als mein Arzt, dann hätte ich ja selber Arzt werden können)


    Viele Grüße

    Nautilus

  • Team-ifb

    Hat das Thema geschlossen.