Prof. Däubler, Corona stellt auch Betriebsräte derzeit vor völlig neue Herausforderungen. Was tun, damit die BR-Arbeit nicht völlig zum Erliegen kommt?
Der Betriebsrat ist gerade auch in einer solchen Krise gefordert. Er muss sich allerdings mit anderen Fragen als sonst befassen: Wer kann seine Arbeit auch von zu Hause aus erledigen? Wie wird die Telefonanlage umgestellt? Muss jeder einen Mundschutz tragen? Gelten die 1,50 m Abstand auch im Betrieb? Kann Kurzarbeit eingeführt werden? Das sind alles Fragen, bei denen der Betriebsrat mitbestimmen kann. Das sollte er auch effektiv tun; er darf nicht nach der Devise handeln: Not kennt kein Gebot, wir akzeptieren alles.
Nicht nur Arbeitgeber schließen ihre Pforten, auch immer mehr Fälle von Quarantäne gibt es. Wie können da noch Beschlüsse gefasst werden?
Beschlüsse können grundsätzlich nur in einer Sitzung gefasst werden, bei der die Betriebsratsmitglieder persönlich anwesend sind. Kommt ein Betriebsratsmitglied in Quarantäne, ist es verhindert und wird durch einen Nachrücker ersetzt. So einfach liegen die Dinge aber eher selten. Es kann passieren, dass im Betrieb ein Corona-Fall aufgetreten ist und deshalb alles dicht gemacht wurde. Möglich ist auch, dass der Arbeitgeber als Mittel der Vorsorge alle nach Hause geschickt und jede Form von Meeting im Betrieb verboten hat. Dies ist an sich für den Betriebsrat nicht bindend, weil er seine Arbeit selbst organisiert, aber häufig wird er sich der Einschätzung des Arbeitgebers anschließen. Das heißt dann, dass keine Betriebsratssitzungen mehr stattfinden können. Stattdessen sind Video- oder Telefonkonferenzen das Mittel der Wahl, sofern die Technik das hergibt. Auch kann man daran denken, Beschlüsse im Umlaufverfahren oder in der Weise zu fassen, dass der Vorsitzende einen (vorher in etwa abgesprochenen) Text an alle versendet und diese dann per Mail dafür oder dagegen stimmen.
Arbeitsminister Hubertus Heil hält in einer aktuellen Ministererklärung Beschlüsse von Betriebsräten per Video oder Telefonkonferenz für wirksam. Teilen Sie diese Meinung?
Dies ist eine sehr mutige Interpretation, über die ich mich ein wenig gewundert habe. Sonst zeichnen sich nämlich Ministerien eher durch Ängstlichkeit aus: Man schaut sich drei Mal um, bevor man ein oder zwei Schritte tut.
Inhaltlich lässt sich die Interpretation des Ministers eventuell mit einer Analogie zu § 41a des Gesetzes über Europäische Betriebsräte rechtfertigen. Diese Vorschrift lässt es für den Bereich der Seeschifffahrt zu, dass ein auf Hoher See oder in einem ausländischen Hafen befindliches Mitglied eines Europäischen Betriebsrats mit Hilfe moderner Kommunikationstechniken zu einer „normalen“ Sitzung hinzugeschaltet wird. Grundgedanke ist die Überlegung, dass für ihn sonst gar keine Beteiligung möglich wäre. Diesen Grundgedanken, bei „Unmöglichkeit“ einer Sitzungsteilnahme auf technische Mittel auszuweichen, könnte man auf die aktuelle Situation übertragen: Wenn wegen der Corona-Pandemie überhaupt keine Betriebsratssitzungen stattfinden können, muss eine solche Ausweichstrategie erst recht Platz greifen. Ob die Gerichte das auch so sehen, bleibt abzuwarten; höchstwahrscheinlich wird man aber einem Betriebsrat keinen Vorwurf machen, wenn er sich auf die Auslegung des Ministers verlassen hat.
Und was bedeutet das für die Praxis?
Man sollte dem Arbeitgeber mitteilen, dass man bis zum Abschluss der Corona-Krise Beschlüsse per Video- oder Telefonkonferenz fasst. Wenn er dann nicht widerspricht und eine andere Lösung anbietet, kann er später nicht mehr kommen und einen Formmangel rügen. Am besten wäre es, man würde eine ausdrückliche Abmachung treffen, dass sich keine Seite auf Formmängel beruft, die während des derzeitigen Ausnahmezustands passiert sind. Dies sollte auch innerhalb des Betriebsrats Konsens sein; eine Betriebsratsminderheit oder ein ausgeprägter „Querkopf“ darf gleichfalls die Beschlüsse nicht mit dem Argument angreifen, sie seien nicht in der nötigen Form zustande gekommen.
Heute hat mir ein Betriebsrat gesagt, wie sehr sie sich über diese Ministererklärung ärgern. Betriebsräte fühlen sich von der Politik offenbar nicht ausreichend gestützt derzeit.
Das kann ich nicht so recht nachvollziehen. Betriebsräte hatten in der Vergangenheit oft Grund, sich über das Ministerium zu ärgern – besonders dann, wenn man an die Vorgängerin denkt. Aber die aktuelle Äußerung sollte kein Anlass für Kritik sein. Sie will die Arbeit der Betriebsräte erleichtern und niemandem Prügel in den Weg legen. Wer sich nicht allein auf die Ministererklärung verlassen will, kann ja die hier vorgeschlagene Lösung einer vertraglichen Vereinbarung mit dem Arbeitgeber wählen und alle Betriebsratsmitglieder veranlassen, ihrerseits auf die Geltendmachung von Formfehlern zu verzichten. Tun sie es dann trotzdem, würde dies gegen Treu und Glauben verstoßen, so dass sie vor Gericht keinen Erfolg hätten.
Wäre es jetzt nicht an der Zeit für eine Änderung oder zumindest Ergänzung des Betriebsverfassungsgesetzes?
Ich bin dagegen, dass man eine so grundsätzliche Frage wie die der Entscheidungen des Betriebsrats in einer Ausnahmesituation wie der jetzigen zu lösen versucht. Ob es „digitale Sitzungen“ geben soll, ist ein sehr vielschichtiges Problem. Wie steht es mit der Vertraulichkeit? Wie kann man dafür sorgen, dass nicht außerhalb des Sichtfelds der Kamera in einer Ecke des Büros ein „Einflüsterer“ des Arbeitgebers steht? Ist es nicht höchst problematisch, dass man nicht während der Sitzung mit zwei Kollegen vor die Tür gehen kann, um bei einer strittigen Frage einen Kompromiss zu finden? Besonders gravierend sind alle diese Fragen beim Gesamtbetriebsrat, wo es passieren könnte, dass es aus Kostengründen überhaupt nur noch Videokonferenzen gibt und das persönliche Gespräch ganz unter den Tisch fällt.
Wolfgang Däubler ist Professor für deutsches und europäisches Arbeitsrecht, bürgerliches Recht und Wirtschaftsrecht an der Universität Bremen