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Der Beweiswert einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ist erschüttert, wenn die vom Arbeitgeber vorgetragenen Tatsachen zu ernsthaften Zweifeln an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit Anlass geben.
LAG Nürnberg, Urteil vom 27.07.2021 – 7 Sa 359/20
Arbeitnehmerin und Arbeitgeber streiten über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung. Der Arbeitgeber betreibt eine Allgemeinarztpraxis. Die Arbeitnehmerin war als Arzthelferin beschäftigt. Von Freitag, den 03.04.2020 bis zum Ostermontag, den 13.04.2020 sollte die Praxis wegen eines geplanten Betriebsurlaubs geschlossen bleiben. Am 18.03.2020 war eine Mitarbeiterin positiv auf das Coronavirus getestet worden. Die Praxis musste wegen einer Quarantäneanordnung bis einschließlich 02.04.2020 schließen. Die vier Mitarbeiterinnen erledigten in dieser Zeit von zu Hause aus alle Arbeiten, die trotz Praxisschließung möglich waren.
Der Arbeitgeber wollte die Versorgung seiner Patienten nicht für drei Wochen hintereinander unterbrechen. Er schlug vor, entweder den Betriebsurlaub zu verschieben oder für zwei Wochen mit weniger Personal in Schichten zu arbeiten. Darüber entbrannte eine heftige Diskussion. Alle Mitarbeiterinnen wollten an dem geplanten Betriebsurlaub festhalten. Die Arbeitnehmerin erklärte unter anderem, dass sie eine gesundheitliche Pause brauche. Sie könne jedenfalls in der geplanten Urlaubswoche nicht arbeiten. Der Arbeitgeber hielt an der Praxisöffnung fest. Am 03.04.2020 schickte die Arbeitnehmerin die Kurznachricht: „Guten Morgen, ich brauche heute eine Pause. Ich hatte gestern Clusterkopfschmerzen und heute auch wieder!! Und I… geht es auch nicht gut.“ Am selben Tag schickten mehrere Mitarbeiterinnen dem Arbeitgeber jeweils die Bilddatei über die zur Veröffentlichung vorgesehene Anzeige zur Praxisschließung und die Kurznachricht „Wir machen Urlaub, Ihr Praxisteam“.
Die Arbeitnehmerin wurde vom 03.04. bis 09.04.2020 von ihrer Hausärztin arbeitsunfähig krankgeschrieben. Zwei weitere Mitarbeiterinnen wurden vom 03.04. bis 10.04.2020 arbeitsunfähig krankgeschrieben.
Als die Arbeitnehmerin wieder in die Praxis kam, erhielt sie vom Arbeitgeber die außerordentliche und fristlose, hilfsweise fristgerechte Kündigung. Der Arbeitgeber erklärte, die Arbeitnehmerin habe sich arbeitsunfähig krankschreiben lassen, ohne krank zu sein. Die Arbeitnehmerin habe sich mit ihren beiden Kolleginnen abgestimmt.
Das Arbeitsverhältnis ist mangels wichtigen Grundes nicht durch die außerordentliche und fristlose Kündigung aufgelöst worden, sondern durch die hilfsweise ausgesprochene ordentliche Kündigung.
Das Vortäuschen von Arbeitsunfähigkeit kann ein „wichtiger Grund an sich“ im Sinne von § 626 Abs. 1 BGB für eine Kündigung sein, wenn der Arbeitnehmer unter Vorlage eines Attests der Arbeit fernbleibt und sich Entgeltfortzahlung gewähren lässt, obwohl es sich in Wahrheit nur um eine vorgetäuschte Krankheit handelt. Ein solcher Arbeitnehmer wird regelmäßig sogar einen vollendeten Betrug begangen haben, denn durch Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat er den Arbeitgeber unter Vortäuschung falscher Tatsachen dazu veranlasst, ihm unberechtigterweise Lohnfortzahlung zu gewähren.
Einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt ein hoher Beweiswert zu. Diesen kann der Arbeitgeber durch entsprechende Tatsachen entkräften. Allerdings muss er seinen Vortrag beweisen. Gelingt ihm dies, so muss sich der Arbeitnehmer konkret zu seiner Erkrankung und der dadurch bedingten Arbeitsunfähigkeit äußern. Im vorliegenden Fall war das Gericht nicht vorbehaltslos davon überzeugt, dass die Arbeitnehmerin wusste, dass sie nicht arbeitsunfähig erkrankt war und, dass sie ihre Ärztin über ihren Gesundheitszustand mit dem Ziel der Krankschreibung getäuscht hat.
Allerdings erkannte das Gericht an, dass die vom Arbeitgeber vorgetragenen Tatsachen zu ernsthaften Zweifeln an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung Anlass gaben.
Alle drei vom Urlaubswiderruf betroffenen Arbeitnehmerinnen, die damit nicht einverstanden waren, erkranken arbeitsunfähig für einen Zeitraum, der bei ihnen den gesamten Urlaub vom ersten bis zum letzten Tag abdeckte. Diese gleichlaufenden besonderen Umstände ließen sich nur schwer mit Launen des Zufalls in Einklang bringen und würden damit den Beweiswert der erteilten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen erschüttern.
Gleichzeitig erkannte das Gericht an, dass die Klägerin – die seit 2014 an aplastischer Anämie leide – ausreichend zu ihrer Erkrankung und der daraus folgenden Arbeitsunfähigkeit vorgetragen hatte. Durch die Befragung der Hausärztin konnte nicht bewiesen werden, dass die Arbeitnehmerin der Ärztin eine Erkrankung nur vorgespiegelt hätte, um eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erlangen. Der Zeugin war auf Grund der langjährigen medizinischen Betreuung der Klägerin bekannt, an welchen Vorerkrankungen diese litt.
Nach eigener Aussage hat sie die Arbeitnehmerin wegen der Pandemie gar nicht persönlich untersucht und konnte deshalb aus eigener Anschauung keine Erkenntnisse zum Gesundheitszustand der Arbeitnehmerin gewinnen. Es fand nur ein Telefongespräch zwischen der Arbeitnehmerin und der Ärztin statt. Sie musste sich deshalb auf deren telefonische Schilderung verlassen. Danach klagte die Arbeitnehmerin über Kopfschmerz, Erschöpfung, innerliche Unruhe und Konzentrationsstörungen. Sie habe das von der Arbeitnehmerin geschilderte Krankheitsbild für vollkommen plausibel gehalten. Damit konnte der Arbeitgeber hinsichtlich des wichtigen Grundes für die außerordentliche Kündigung den notwendigen Beweis nicht erbringen.
Die ordentliche Kündigung der Arbeitnehmerin war wirksam. Für die ordentliche Kündigung war kein Kündigungsgrund notwendig, da das Kündigungsschutzgesetz auf den „Kleinbetrieb“ keine Anwendung findet.
Die Arbeitnehmerin hatte im vorliegenden Fall vom Arbeitgeber auch Urlaubsabgeltung für die Zeit vom 03.04. bis 09.04. verlangt. Schließlich sei sie während der Urlaubstage arbeitsunfähig krank gewesen. Doch jetzt hatte die Arbeitnehmerin Pech mit der Beweislast: Der Anspruch auf Urlaubsabgeltung steht der Arbeitnehmerin nur zu, wenn sie nachweislich arbeitsunfähig erkrankt war. Nach § 9 BUrlG ist dieser Nachweis durch ärztliches Attest, zum Beispiel in Form einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, zu erbringen. Deren Beweiswert war nach den obigen Ausführungen aber erschüttert und deshalb untauglich, eine Krankheit und eine daraus folgende Arbeitsunfähigkeit der Arbeitnehmerin nachzuweisen. Auch nach der Aussage der behandelnden Ärztin stand für das Gericht nicht – mit hinreichendem Maß an richterlicher Überzeugung – fest, dass die Arbeitnehmerin krank war. Schließlich hatte sich die Ärztin nur auf die telefonischen Schilderungen der Arbeitnehmerin verlassen.
Ob in dieser nervenaufreibenden Auseinandersetzung um Quarantäne, Betriebsurlaub oder Krankheit Recht oder Unrecht gewonnen hat, überlasse ich Ihrer persönlichen Einschätzung. Für mich gibt es jedenfalls nur eine Schuldige in diesem Verfahren – und das ist die Pandemie. (sf)