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„Was nützen die tollsten Geräte, wenn kein Pflegepersonal da ist, um sie zu bedienen?“

© Thorsten Wulff
Stand:  21.2.2023
Lesezeit:  05:00 min
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Pflegenotstand, Medienpräsenz und Rolle der Betriebsräte: Intensivpfleger Ricardo Lange im Interview

Intensivpfleger Ricardo Lange ist nicht zuletzt aufgrund der Corona-Pandemie zu einem Gesicht seiner Branche geworden. Dennoch applaudieren nicht alle aus dem Pflegebereich für den 41-Jährigen, sobald er öffentlich auftritt. Warum das so ist? „Hat auch mit unserer Berufsgruppe zu tun“, sagt der gebürtige Berliner, der trotz seiner medialen Präsenz weiterhin Vollzeit in der Pflege tätig ist. Im Gespräch verrät er, weshalb ihn der Begriff „Pflegenotstand“ nervt und warum es ihm leichtfällt, beispielsweise Karl Lauterbach Paroli zu bieten.

Ricardo Lange | © Thorsten Wulff

Ricardo Lange

Intensivpfleger

Ricardo Lange wuchs in Berlin auf, betrieb Kampfsport und Bodybuilding. Nach einer Zeit als Fitnesstrainer und bei der Polizei fand er seine Berufung als Intensivpfleger. Heute arbeitet der 41-Jährige als Zeitarbeitnehmer in unterschiedlichen Berliner Kliniken. Bekannt wurde Ricardo Lange, als er inmitten der Corona-Pandemie zur Bundespressekonferenz eingeladen wurde und vom Pflegenotstand berichtete. Mittlerweile hat er ein Buch geschrieben unter dem Titel „Intensiv – Wenn der Ausnahmezustand Alltag ist“.

Pflegenotstand – was macht der Begriff mit Dir?

Ricardo Lange: Mich nervt das Wort mittlerweile. Weil man es ständig in den Mittelpunkt rücken muss in einer Zeit, in der so viele Schlagzeilen miteinander konkurrieren. Und da ist es immer schwierig, das Thema unterzubringen, weil gefühlt nichts passiert.

Urplötzlich warst Du Mitte 2021 Redner auf der Bundespressekonferenz: Wie hast Du Dich gefühlt?

Ricardo Lange: Ich sag mal so: Ich hätte mir fast in die Hose gemacht. Im Vorfeld hatte ich 20 Minuten mit Jens Spahn telefoniert und mir meinen Text, den ich vortragen wollte, im Auto zurechtlegen. Das hat aber irgendwie nicht geklappt. Ich saß also neben dem Gesundheitsminister und Herrn Wieler vom RKI und dachte: Wie naiv bist du eigentlich? Dafür hat es dann aber ganz gut funktioniert. Der Tag war wirklich aufreibend, am Abend hat sogar noch Markus Lanz angerufen.

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Viele sind gestresst, da braucht es ein Ventil.

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Mittlerweile bist Du ein Gesicht der Pflege, dennoch sind nicht alle Reaktionen aus der Branche positiv. Kannst Du Dir das erklären?

Ricardo Lange: Wir sind natürlich eine Berufsgruppe, die generell viel meckert – zu Recht. Außerdem ist die Mobbingrate besonders hoch. Warum? Das kann ich mir nur durch die schlechte Work-Life-Balance erklären. Viele sind gestresst, da braucht es ein Ventil. Wenn dann jemand Aufmerksamkeit bekommt, sehen die Menschen die Arbeit dahinter nicht mehr. Denken, man verdiene viel Geld.

Bereust Du es manchmal, medial derart präsent zu sein? 

Ricardo Lange: Bereuen nicht, aber ich habe es unterschätzt. Da geht für so einen Fernsehbeitrag schon mal ein ganzer Urlaubstag drauf. Und ab und zu taucht der dann gar nicht auf, weil das Thema nicht mehr relevant ist. Ich habe mittlerweile einige Follower bei Twitter und Instagram. Und die haben zu Recht den Anspruch, dass man ihnen antwortet. Man schreibt ja nicht über Beautytipps.

Pflege am Limit | © AdobeStock | oatawa

Fachtagung „Pflege am Limit – Boostern Sie Ihr Betriebsratswissen“

Ricardo Lange live erleben? Auf der Fachtagung „Pflege am Limit“ spricht er am Dienstag, 9. Mai 2023, im Eröffnungsvortrag zum Thema „Pflegnotstand – hausgemacht!?“. Die Fachtagung findet von 9. Mai bis 12. Mai in Berlin statt.

Gibt es Überlegungen, selbst in die Politik zu gehen?

Ricardo Lange: Es gab sogar Angebote. Aber ich muss gestehen, ich wüsste nicht mal welche Partei. Ich bin auch weder in einem Verband noch in einer Gewerkschaft, sondern möchte unabhängig bleiben. Sonst muss immer abgestimmt werden, was gesagt wird. Ich möchte aber so sprechen, wie mir der Mund gewachsen ist.

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Kurioserweise interessiert sich keiner für die Menschenleben, die aus Personalmangel riskiert werden.

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Ricardo Lange nimmt kein Blatt vor den Mund

Du sagst: „Die Pflege muss selbstbewusster werden!“ Wie meinst Du das?

Ricardo Lange: Um es ganz platt zu sagen: Den Laden mal abbrennen lassen! Wir lassen uns immer emotional erpressen. Aber es ist doch nicht unsere Aufgabe, den Dienstplan abzudecken – und dann noch in unserer Freizeit. Wir Pflegekräfte dürfen nicht immer jammern, aber auf der anderen Seite durch unser ständiges Einspringen dazu beitragen, dass der Notstand verschleiert wird. Dann heißt es immer: Ihr macht das für die Patienten, es hängen Menschenleben dran. Aber kurioserweise interessiert sich keiner für die Menschenleben, die aus Personalmangel riskiert werden. Beispiel sind multiresistente Krankhauskeime, die vermehrt entstehen, weil die Zeit für ausreichende Hygiene einfach fehlt.

Hattest Du schon mal mit Betriebsräten zu tun?

Ricardo Lange: Selbstverständlich! In meiner Festanstellung ganz konkret, da gab es Probleme mit der Stationsleitung und ich bin dann den Weg über den Betriebsrat gegangen. Ich würde mir von Interessenvertretern – das trifft natürlich nicht auf alle zu – noch mehr Einsatz und Durchsetzungsvermögen wünschen. Es kann da schon eine Menge verbessert werden, beispielsweise aktiv gegen Mobbing. Vielleicht wäre es auch gut, eine zentrale Anlaufstelle mit betrieblichen Interessenvertretern zu schaffen, wenn jemand krank ist. Ich glaube, Mitarbeiter wären damit enthemmter und würden nicht aus Angst krank zur Arbeit gehen.

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Egal, ob Bundeskanzler, Chefarzt oder Reinigungskraft. Am Ende des Tages sitzen wir alle mit der Jogginghose auf der Couch.

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Lauterbach, Spahn, Wieler – Du bist bereits einigen prominenten Persönlichkeiten begegnet: Fällt es Dir schwer, Paroli zu bieten?

Ricardo Lange: Ich bin in Berlin-Hellersdorf aufgewachsen, da musste ich mich durchsetzen. Außerdem habe ich einen Leitsatz: Egal, ob Bundeskanzler, Chefarzt oder Reinigungskraft. Am Ende des Tages sitzen wir alle mit der Jogginghose auf der Couch. Wenn ich etwas zu sagen habe, muss sich mein Gesprächspartner das anhören. Dann müssen sie das auch mal hinnehmen, wenn verbale Backpfeifen verteilt werden.

Den Pflegeberuf für junge Menschen attraktiver gestalten: In Deinem Buch nennst Du als konkreten Vorschlag ein Schulfach „Gesundheit“. Was gäbe es noch für Ansätze?

Ricardo Lange: Würde ich eine Klinik leiten, ließe ich die Mitarbeiter den Dienstplan selbst schreiben. Würde nur regulieren, wo es nicht funktioniert. Außerdem sollte es kein starres Schichtsystem geben – gerade für Mütter oder Väter. Ich würde Urlaubstage für Nichtraucher einführen, denn das wäre ein Anreiz für die Mitarbeiter mit dem Rauchen aufzuhören. Zudem könnte das Renteneintrittsalter für die Pflege herabgesetzt werden. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen ja, dass die Lebenserwartung bei Schichtarbeitern im Schnitt um acht Jahre sinkt. Bei der Bundeswehr geht das, bei der Feuerwehr auch. Warum also nicht in der Pflege? Außerdem finde ich die Idee mit der 35-Stunden-Woche gut. Mehr Zeit für sich und seine Familie – das wäre ein echter Benefit.

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An Geld gewöhnst du dich. Aber du gewöhnst dich nie daran, einen Patienten im Stich zu lassen, weil du vielleicht nicht konzentriert warst.

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Es kommt also nicht nur aufs Geld an.

Ricardo Lange: Geld ist nicht alles! Ein Beispiel: Ein Klinikverbund hat sogenannte Joker-Dienste eingeführt, um die Leiharbeit einzudämmen. Wenn du einspringst, bekommst du bis zu 200 Euro die Stunde. 1.600 Euro am Tag – krass viel Kohle. Das hat aber nicht dazu geführt, dass Mitarbeiter Stunden anhäuften oder die Leiharbeit nicht mehr gebraucht wird. Sondern hat nur dazu beigetragen, dass Arbeiter verheizt werden. An Geld gewöhnst du dich. Aber du gewöhnst dich nie daran, einen Patienten im Stich zu lassen, weil du vielleicht nicht konzentriert warst.

Die Krankenhausreformen gehen Ricardo Lange nicht weit genug

Wie denkst Du über die geplanten Krankenhausreformen?

Ricardo Lange: Dabei geht es eigentlich nur um die Finanzierung der Kliniken, was natürlich wichtig ist. Aber ich habe noch keinen Vorschlag wegen des Personalmangels gehört. Was nützt die beste Ausstattung, die tollsten Geräte, wenn keiner mehr da ist, um sie zu bedienen? Die Veränderungen sind ein Schritt in eine bessere Richtung, aber ich würde mir wünschen, dass sich Klinik und Mitarbeiter noch mehr als Team verstehen.

 

Gibt es Gründe, die Dich trotz allem positiv in die Zukunft blicken lassen?  

Ricardo Lange: Ich glaube, es wird sich was ändern, das zeigt sich schon in den sozialen Netzwerken. Die Gesundheitsbranche wird bereits selbstbewusster. Immer mehr Rettungsdienste, Ärzte oder Pfleger haben Accounts. Die Berufsgruppe als solche nimmt sich besser wahr und verändert damit ihre Wirkung nach außen. Es ist ein Prozess, der gerade erst begonnen hat. Außerdem gibt es durch die Zeitarbeit einen starken Konkurrenten …

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Die attraktivsten Arbeitgeber werden sich langfristig durchsetzen!

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Die Zeitarbeit als Konkurrent zu Kliniken? Das musst Du erklären!

Ricardo Lange: Ja, in Bezug auf Zeit und Bedingungen. Dadurch müssen sich Kliniken etwas überlegen, damit die Leute eben nicht in die Zeitarbeit abwandern. Welche Klinik hat die besten Voraussetzungen? Wo ist die Bezahlung fair? Wieviel Urlaub gibt es? Welche Benefits? Die attraktivsten Arbeitgeber werden sich langfristig durchsetzen!

Du würdest Deinen Freunden weiterhin empfehlen, in die Pflege zu gehen?

Ricardo Lange: Na klar! Ich finde, es ist ein erfüllender Beruf. Menschenleben zu retten ist toll, aber es sind die Gespräche über alle gesellschaftlichen Schichten hinweg, die den Beruf aus- und so vielseitig machen. Außerdem kann man jederzeit wechseln, sich fortbilden. Etwa zum Wundmanager oder Atemtherapeut. Es wird nie langweilig. Ich wüsste keinen abwechslungsreicheren Beruf, in dem man noch dazu so coole Arbeitskleidung trägt. (tis)

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