Kai Gondlach (*1987) ist renommierter Zukunftsforscher und Geschäftsführer des Leipziger Zukunftsinstituts PROFORE, Autor, Herausgeber und Podcaster. Er berät mit seinem Team Unternehmen und öffentliche Einrichtungen in Zukunftsstrategien und zählt zu Deutschlands meistgefragten Keynote Speakern. Mehr unter: www.kaigondlach.de und www.profore-zukunft.de
Kai, jeder von uns würde wohl gerne mal einen Blick in die Zukunft wagen. Was kannst Du dort sehen, wo steuern wir hin?
Kai Gondlach: Zunächst ist wichtig, dass es „die eine Zukunft“ ja gar nicht gibt – wir sprechen stattdessen von Zukünften. Schließlich hat jeder Mensch eine andere Vorstellung davon. Und nur diese aktuellen Vorstellungen, Erwartungen oder Strategien können wir messen, Daten aus der Zukunft gibt’s nicht. Aber natürlich gibt es ein durchschnittlich plausibles Standardszenario, aus dem wir hier und da Bestandteile näher beleuchten, beispielsweise aus der Arbeitswelt oder bestimmten Industriezweigen. Alles in allem stecken wir gerade in der größten Mehrfach-Transformation, die die Menschheit je durchmachen musste oder durfte. In den nächsten Jahren wird es noch ordentlich ruckeln, viele Betriebe werden das Jahrzehnt nicht überleben. Das hat zahlreiche Ursachen, die wichtigsten sind: Fachkräftemangel, fehlende Innovationskraft – zum Beispiel in puncto KI – und mangelhafte Vorbereitung auf Krisenzeiten.
Was genau ist Deine Grundlage als Zukunftsforscher, woher kommen Deine Erkenntnisse?
KG: Das oben schon genannte Standardszenario füttern wir immer wieder mit Daten, Erkenntnissen aus eigenen und anderen Studien sowie aus gezielten Interviews. Als Sozialwissenschaftler kann ich die Dynamiken und Mechanismen, die für Wandel oder auch Stillstand verantwortlich sind, relativ gut einschätzen. Auch die Zukunftsforschung setzt hier an und hat erstaunlich wenig mit Zukunft zu tun. Sie bietet stattdessen einen umfangreichen Werkzeugkoffer, um die Vergangenheit und Gegenwart in plausible Szenarien zu übersetzen – um Orientierungswissen zu schaffen.
Andererseits ist auch meine eigene Biografie ein guter Nährboden: Mein Vater hat viel darüber gesprochen, was er und seine Familie während des Zweiten Weltkriegs als Flüchtlinge im eigenen Land erlebt haben. Mein Großvater mütterlicherseits war selbst aktiver Gewerkschafter und wurde wegen seiner politischen Ansichten Anfang der 1940er in ein Arbeitslager gesteckt. Ich war der erste in meiner Familie, der Abitur gemacht und studiert hat. Meine Wurzeln sind also proletarisch geprägt, gleichzeitig habe ich die Vorzüge der internationalen, globalisierten und digitalen Wirtschaft und Politik studiert und erlebt. Aus diesem Fundus lässt sich gut schöpfen.
Also im besten Fall erkennst Du so Probleme, bevor sie überhaupt existieren?
KG: Manchmal ja. Die Corona-Pandemie habe ich, übrigens nicht als einziger, 2019 relativ punktgenau angekündigt. Ähnliches gilt für den Krieg in der Ukraine, die Ampel-Koalition als plausibelste Regierungskoalition oder das Deutschlandticket. Paradoxerweise geht es in der Zukunftsforschung aber nicht so sehr darum, Recht zu haben, sondern eher darum, der Zielgruppe eine hilfreiche Orientierung zu stiften. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie hilfreich die Ankündigung einer Pandemie für einen Pharmakonzern war, der tatsächlich zugehört und sich darauf vorbereitet hat. Unternehmen mit globaler Lieferkette, die den Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine vernünftig vorbereitet haben, standen nach Kriegsbeginn im Februar 2022 deutlich resilienter da. Darum geht’s uns. Und dieses Wissen bzw. den Methodenkoffer möchten wir mit PROFORE auch gern weitergeben.
Wie wappnet man sich als Arbeitnehmer am besten, was kann jeder Einzelne schon heute tun?
KG: Erstens waren Beschäftigte nie in einer stärkeren Position als heute; der Mangel an Arbeits- und Fachkräften ist inzwischen in fast allen Regionen und Wirtschaftssektoren angekommen. Dadurch haben Betriebsräte und Gewerkschaften eine historisch einmalig starke Verhandlungsposition. Dennoch beteiligen sich meiner Meinung nach noch deutlich zu wenige Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in der Interessensvertretung – da geht noch was! Die ganzen strukturellen Probleme – u. a. Lohn-, Renten-, Einkommensungerechtigkeit zwischen Ost und West, Nord und Süd, Management und Arbeiterschaft – müssen jetzt mit Nachdruck angegangen werden, denn eines Tages drehen die Uhren auch wieder anders.
Zweitens ist es heute wichtiger denn je, sich selbst weiterzubilden. Mit dem Einzug von KI in die Büros und Produktionsstätten brauchen wir auf der einen Seite wieder ein neues Kompetenzspektrum, etwa so wie damals bei der Einführung von Computern. Einige werden ihre Jobs perspektivisch auch gar nicht mehr ausüben können, weil die Arbeitgeber in die Knie gehen, wenn die fossile Wirtschaft in kürzester Zeit verschwindet. An dieser Stelle gibt es massiven Umschulungsbedarf; immerhin benötigen wir Millionen Arbeitskräfte, um die Energie-, Verkehrs-, Bau- und Wärmewende voranzutreiben.
Auf der anderen Seite werden die sogenannten Softskills immer wichtiger, wenn Technologie uns perspektivisch Arbeit abnimmt; Kreativität ist in manchen Bereichen heute schon wichtiger als ein gutes Schulzeugnis, dieser Trend wird sich allmählich in allen Sektoren durchsetzen.
Und wie ist es mit Betriebsräten – was bringt die Zukunft den Interessenvertretern, wie stehen sie in 10 Jahren da?
KG: Das hängt ganz maßgeblich von ihnen selbst ab. Oben habe ich schon gesagt, dass sie mehr Beteiligung brauchen. Sie müssen sich noch digitaler aufstellen und sicherlich an manchen Stellen auch KI einsetzen. Rund um den Jahreswechsel gab es ja einige Streikwellen, das war eine erwartbare und grundsätzlich richtige Entwicklung. Aber dabei darf es nun nicht bleiben.
Allerdings würde ich mir wünschen, dass Interessenvertreter nicht nur auf die klassischen Themen schauen, sondern auch das Geschäftsmodell und die Ablauforganisation der Betriebe stärker in den Blick nehmen. Es nützt ja nichts, wenn wir uns beispielsweise gegen E-Mobilität einsetzen, weil dadurch Arbeitsplätze bei den Verbrenner-Jobs gefährdet sind, dann aber mittelfristig doch alles umgestellt werden muss. Das war absehbar!
In Kürze: Ich rate zu einem 360°-Blick aufs Unternehmen und die Belegschaft mit einer Prise Zukunft.
Stichwort KI, Künstliche Intelligenz: Welche Besonderheiten siehst Du hier für die Arbeitswelt?
KG: Das ist ein Fass ohne Boden. KI kann wahnsinnige Potenziale heben, die wir teilweise noch gar nicht absehen können. Der kluge Einsatz von KI – unter der Voraussetzung, dass das auch sozial und weitgehend ökologisch nachhaltig geschieht –, kann die Arbeits- und Fachkräfteproblematik zum Teil lösen.
Nahezu alle Jobs werden sich verändern, allerdings in jedem Fall unterschiedlich. Denn letztlich trifft ja nicht „die KI“ die Entscheidung, welche Aufgaben fortan automatisiert werden, sondern das Management unter Mitsprache der Betriebsräte. KI beschleunigt gleichermaßen die Veränderung von Organisationsmodellen. Am effizientesten können Unternehmen KI entwickeln und einsetzen, die selbst einigermaßen agil geworden sind. Das heißt nicht, dass es in Zukunft keine Hierarchien mehr gibt, aber viel weniger Silos und voneinander isolierte Organisationseinheiten; letztere werden außerdem wieder mehr Verantwortung über die eigenen Etats oder Personalentscheidungen zurückerlangen. Insofern ist KI kein rein technologisches Phänomen, wie viele denken.
Bei so viel Umbruchpotenzial ist Optimismus gefragt – wie aber gelingt der befreiende Blick nach vorn?
KG: Ich beschäftige mich täglich gleichermaßen mit Utopien und Horrorszenarien, suche für beide und alles dazwischen stets nach Indizien. Ich bin trotzdem einigermaßen optimistisch. Dabei hilft mir die sogenannte faktenbasierte Weltsicht. Ich lasse mich nur selten von Horrormeldungen über schreckliche Ereignisse aus der Fassung bringen, weil ich mich immer sofort frage, wie das zur Gesamtentwicklung passt.
Leider geben uns die Medien selten die relativen Verhältnisse an die Hand, ordnen zu wenig ein. Wenn man sich aber anschaut, wie viel sicherer wir besonders hier in Westeuropa seit vielen Jahrzehnten leben, wie wir wirtschaftlich immer besser dastehen, eine grundsätzlich sehr gute Gesundheitsversorgung haben, bin ich zuversichtlich. Ich bin tatsächlich auch zuversichtlich mit Blick auf die Politik, deren Ziel im Großen und Ganzen ist, diesen umfassenden Wohlstand auch zu erhalten und global zu erhöhen, damit am Ende alle mehr vom wachsenden Kuchen haben. Zwar rege auch ich mich über jede Fehlentscheidung und jeden Skandal in Politik und Wirtschaft auf – im Verhältnis ging es uns aber noch nie viel besser. Und wir hatten noch nie so aufmerksame Organisationen, die den Top-Entscheidungsträgern auf die Finger schauen. Und das ist ein sehr guter Grund zur Hoffnung, finde ich. (cbo/nb)