Liebe Nutzer,
für ein optimales und schnelleres Benutzererlebnis wird als Alternative zum von Ihnen verwendeten Internet Explorer der Browser Microsoft Edge empfohlen. Microsoft stellt den Support für den Internet Explorer aus Sicherheitsgründen zum 15. Juni 2022 ein. Für weitere Informationen können Sie sich auf der Seite von -> Microsoft informieren.
Liebe Grüße,
Ihr ifb-Team
Stellen Sie sich folgenden Fall vor: Einer Arbeitnehmerin wird gekündigt. Ihren zuvor gestellten Antrag auf Feststellung ihrer Schwerbehinderung hat das Versorgungsamt im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung abgelehnt. Diese Entscheidung greift die Betroffene an und bekommt Recht, so dass die Schwerbehinderung doch noch rückwirkend anerkannt wird.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 06.09.2007 - 2 AZR 324/06
Greift hier der besondere Kündigungsschutz für schwerbehinderte Arbeitnehmer? Eine spannende Frage, die nach langem Streit nun endlich höchstrichterlich entschieden wurde.
Im Juni 2003 beantragte eine Arbeitnehmerin die Feststellung ihrer Schwerbehinderung beim Versorgungsamt.
Im August 2003 stellte die Arbeitgeberin beim Integrationsamt einen Antrag auf Zustimmung zur ordentlichen Kündigung des Arbeitsverhältnisses aus personenbedingten Gründen. Die Antwort des Integrationsamtes ließ jedoch auf sich warten.
Im Januar 2004 wurde bei der Arbeitnehmerin ein Grad der Behinderung von 30 festgestellt. Das war ihr aber zu wenig und sie legte Widerspruch und schließlich Klage ein mit dem Antrag, einen Behinderungsgrad von mindestens 60 und damit eine Schwerbehinderung festzustellen.
Im Juli 2004 hatte die Arbeitgeberin immer noch keine Antwort des Integrationsamtes erhalten. Sie wurde das Warten leid und obwohl sie von dem Bemühen der Arbeitnehmerin um Anerkennung einer Schwerbehinderung wusste, kündigte sie das Arbeitsverhältnis schließlich ohne Zustimmung des Integrationsamtes.
Im September 2004 erhielt die Arbeitgeberin endlich die Entscheidung des Integrationsamtes durch ein sog. „Negativattest": der Zustimmungsantrag wurde zurückgewiesen. Die Ermittlungen hätten ergeben, dass die Klägerin nicht als schwerbehinderter Mensch anerkannt sei und auch eine Gleichstellung liege nicht vor.
Im Jahr 2005 wurde dann rückwirkend zum August 2003 die Schwerbehinderung der Arbeitnehmerin anerkannt.
Die Arbeitnehmerin hielt die Kündigung unter anderem wegen der fehlenden vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes für unwirksam.
Das sah die Arbeitgeberin ganz anders. Eine Zustimmung des Integrationsamtes habe es in diesem Fall nicht bedurft, da die Schwerbehinderung im Zeitpunkt der Erklärung und des Zugangs der Kündigung nicht nachgewiesen gewesen sei. Das würde § 90 Abs. 2a SGB IX für das Eingreifen des Sonderkündigungsschutzes aber verlangen.
Der Rechtsstreit ging hoch bis zum Bundesarbeitsgericht. Dieses gab der Arbeitnehmerin Recht und erklärte die Kündigung für unwirksam.
Es fehlte die nach § 85 SGB IX erforderliche vorherige Zustimmung des Integrationsamtes zur Kündigung. Denn die Arbeitnehmerin war durch die rückwirkende Anerkennung zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs schwerbehindert mit einem Grad der Behinderung von 60.
An dieser Zustimmungsbedürftigkeit der Kündigung ändert auch das sog. Negativattest nichts, welches die Arbeitgeberin im September 2004 erhielt, weil dieses erst NACH der Kündigung ergangen ist.
Prinzipiell kann ein bestandskräftiges Negativattest ebenso wie die Zustimmung des Integrationsamtes die zunächst bestehende Kündigungssperre beseitigen. Der Arbeitgeber kann sich aber nur darauf berufen, wenn das Negativattest VOR dem Ausspruch der Kündigung vorliegt.
Die Zustimmung des Integrationsamtes war auch nicht nach § 90 Abs. 2a SGB IX entbehrlich. Grundsätzlich findet der Sonderkündigungsschutz danach zwar keine Anwendung, wenn - wie hier - zum Zeitpunkt der Kündigung die Schwerbehinderteneigenschaft NICHT NACHGEWIESEN ist (§ 90 Abs. 2a Alt. 1 SGB IX).
Ausnahmsweise kann der Sonderkündigungsschutz jedoch bei tatsächlich vorliegender Schwerbehinderung TROTZ FEHLENDEN NACHWEISES bestehen, wenn der Feststellungsantrag mindestens drei Wochen vor der Kündigung gestellt worden ist und das Fehlen des Nachweises nicht auf fehlender Mitwirkung des Arbeitnehmers beruht (§ 90 Abs. 2a Alt. 2 SGB IX). Dies war hier der Fall, denn die Arbeitnehmerin hatte ihren Antrag über ein Jahr vor der Kündigung und damit rechtzeitig gestellt und ist ihren Mitwirkungspflichten nachgekommen.
Für die Frage, ob bei ihr tatsächlich im Kündigungszeitpunkt eine Schwerbehinderung vorlag, ist nach Ansicht des Gerichts nicht die erste (hier falsche, ablehnende) Entscheidung des Versorgungsamtes maßgeblich, sondern immer nur das bestandskräftige Endergebnis des Anerkennungsverfahrens - hier also die rückwirkende Anerkennung nach Widerspruch und Klage.
Denn der Gesetzgeber will den Sonderkündigungsschutz nicht einem redlichen Antragsteller entziehen, dessen berechtigter Antrag auf Feststellung seiner Schwerbehinderung nur deshalb keinen Erfolg hat, weil das Versorgungsamt eine unrichtige Feststellung getroffen hat.
Liegt im Zeitpunkt der Kündigung eine ablehnende Erstentscheidung des Versorgungsamtes auf Anerkennung einer Schwerbehinderung vor, so führt dies nicht zwangsläufig zum Verlust des Sonderkündigungsschutzes. Dieser greift nach dieser lang erwarteten höchstrichterlichen Entscheidung auch dann ein, wenn bei rechtzeitiger Antragstellung erst aufgrund von Widerspruch oder Klage später rückwirkend die Schwerbehinderteneigenschaft zuerkannt wird.
Es kann sich bezogen auf den Sonderkündigungsschutz also durchaus lohnen, gegen einen zunächst ablehnenden Bescheid des Versorgungsamtes vorzugehen.