Jörg, ganz ehrlich: Bist Du ein Fan der Vertrauensarbeitszeit?
Mein Fanstatus hält sich da ein wenig in Grenzen. Man weiß heute aus der Praxis, dass Vertrauensarbeitszeit sowohl Chancen, leider aber auch einige Schattenseiten birgt.
Was genau bedeutet denn eigentlich Vertrauensarbeitszeit, was versteht man darunter?
Bei Vertrauensarbeitszeit wird das Einhalten der täglichen Arbeitszeit nicht mehr kontrolliert. Den Mitarbeitern wird vertraut, dass sie ihre Arbeitszeiten von selbst beachten. Nicht immer, aber meistens kommt hinzu, dass die Arbeitnehmer auch ihren täglichen Arbeitsbeginn und das Arbeitsende selbst bestimmen. Wenn viel zu tun ist, können sie länger arbeiten, ist weniger zu tun oder haben sie einen wichtigen privaten Termin, können sie auch einmal früher gehen. Die Arbeitnehmer werden also ihre eigenen Arbeitszeitmanager, wobei sie natürlich auf einen bestimmten Rahmen, auf ihre Kollegen und die betrieblichen Notwendigkeiten Rücksicht nehmen müssen.
Ist es eine weit verbreitete Form der Arbeitszeit?
Vertrauensarbeitszeit wird bereits in vielen Betrieben praktiziert. Ich habe ständig Anfragen zu diesem Thema. Als Fortentwicklung flexibler Arbeitszeitmodelle steht die Vertrauensarbeitszeit auf dem Wunschzettel vieler Unternehmen besonders im Dienstleistungsbereich, vermehrt aber auch im produzierenden Gewerbe.
Das Risiko bei Vertrauensarbeitszeit heißt Arbeitsverdichtung und Selbstausbeutung.
Das Wort „Vertrauen“ klingt erst einmal ganz gut. Wo genau siehst Du die Stolperfallen dieser Arbeitszeitform?
Mit dem Wort „Vertrauen“ werden Urinstinkte im Menschen angesprochen. Wenn mir jemand Vertrauen und Zeithoheit schenkt, dann möchte ich dieses Vertrauen nicht enttäuschen. Was aber, wenn der Arbeitnehmer feststellt, dass er viel zu viel Arbeit hat, als dass er diese im Rahmen seiner Vertrauensarbeitszeit schafft? Soll der Arbeitnehmer dann seinem Vorgesetzten sagen, dass er mit der Vertrauensarbeitszeit nicht klar kommt, sich nicht selbst organisieren kann und stattdessen Überstunden anmelden? Kurz gesagt: Das Risiko bei Vertrauensarbeitszeit heißt Arbeitsverdichtung und Selbstausbeutung. Um das geschenkte Vertrauen nicht zu enttäuschen, arbeitet der Arbeitnehmer in der Praxis häufig mehr, als er nach seinem Arbeitsvertrag müsste. Die entstandenen Zeitguthaben werden nicht aufgezeichnet – und daher häufig auch nicht ausgeglichen oder bezahlt. Es ist nicht selten, dass Arbeitgeber dort Vertrauensarbeitszeiten einführen wollen, wo bislang bestehende Arbeitszeitkonten aus dem Ruder gelaufen sind. Boshaft ausgedrückt könnte Vertrauensarbeitszeit dazu ausgenutzt werden, den Arbeitnehmer nicht mehr über die Arbeitszeit, sondern über die Arbeitsmenge zu steuern. Vertrauensarbeitszeit bedeutet aber nicht, dass geleistete Mehr- oder Minderzeiten nicht zu berücksichtigen wären, sondern stattdessen zu Lasten (oder Gunsten) des Arbeitnehmers gingen.
Manche Arbeitnehmer sind froh über Vertrauensarbeitszeit. Für andere wächst der Druck …
Weniger Kontrolle und mehr Flexibilität finden wir sicher alle gut. Daher sollte man Vertrauensarbeitszeit auch nicht verteufeln. Man muss aber gute betriebliche Regelungen finden, mit denen die Vorteile der Vertrauensarbeitszeit gelebt und die Nachteile in Schach gehalten werden können. Dazu gehören klare Regelungen zum täglichen Arbeitszeit- und Pausenrahmen und zum Umgang mit Mehr- und Minderarbeit. Auch eine betriebliche Clearingkommission zur Meidung von Überlastung hat sich als positiv erwiesen.
Stichwort Betriebsrat: Was hat er zu sagen beim Thema Vertrauensarbeitszeit?
Die Einführung von Vertrauensarbeitszeit unterliegt der betrieblichen Mitbestimmung. Arbeitgeber und Betriebsrat müssen Regelungen zur Vertrauensarbeitszeit und zum Umfang der den Beschäftigten übertragenen Zeithoheit schaffen. Sie müssen sich auch Gedanken machen, wie sie in diesem Modell mit – ja schließlich mitbestimmungspflichtigen – Überstunden umgehen. Die Einführung von Vertrauensarbeitszeit bedarf also stets einer guten Betriebsvereinbarung. Sonst kann nicht mehr überprüft werden, ob die Arbeitnehmer innerhalb oder außerhalb ihrer geschuldeten Regelarbeitszeiten arbeiten. Zudem würde der Betriebsrat seine Überwachungspflichten aufgeben.
Also siehst Du in der Praxis vor allem die Kontrolle gefährdet?
Wo nichts aufgezeichnet wird, kann auch nichts kontrolliert werden. So einfach darf man sich das aber nicht machen. Erstens verlangt das Arbeitszeitgesetz bestimmte Aufzeichnungen, zum anderen muss der Betriebsrat zur Erfüllung seiner Schutzpflichten wenigstens den Überblick über die geleisteten Arbeitszeiten behalten können.
"Mit dem Wort 'Vertrauen' werden Urinstinkte im Menschen angesprochen."
Was sagen die Gerichte zum Thema Vertrauensarbeitszeit?
Die Arbeitsgerichte betrachten Vertrauensarbeitszeit nicht als Arbeitszeit-, sondern primär als Organisationsmodell. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts bedeutet Vertrauensarbeitszeit grundsätzlich nur, dass der Arbeitgeber auf die Festlegung von Beginn und Ende der täglichen Arbeitszeit verzichtet und darauf vertraut, der betreffende Arbeitnehmer werde seine Arbeitsverpflichtung in zeitlicher Hinsicht auch ohne Kontrolle erfüllen. Vertrauensarbeitszeit schließt danach weder Arbeitszeitkonten noch die Abgeltung von Zeitguthaben aus.
Was sollten Betroffene und ihre Interessenvertreter tun, hast Du einen Tipp?
Vertrauen zu verordnen ist schwierig. Vertrauen muss durch entsprechende betriebliche Kultur entstehen und wachsen. Dem Betriebsrat kommt hierbei eine Schlüsselrolle zu. Er muss bewerten, ob der Betrieb reif ist für das Abenteuer Vertrauensarbeitszeit und dann gemeinsam mit dem Arbeitgeber hierzu die Rahmenbedingungen schaffen. So umgesetzt und gelebt werde dann übrigens auch ich ein Fan der Vertrauensarbeitszeit.