Im Grunde gibt es nur noch die Extreme
Haben Sie in der letzten Zeit zufällig einmal die Leserkommentare unter polarisierenden Artikeln gesichtet? Erschreckend, wie schnell es „unter die Gürtellinie“ geht und die Kommentarfunktion von den Plattformen gesperrt werden muss. Die Schlagzeilen sind dabei eigentlich sekundär. Ob der Wolf nun geschützt oder gejagt gehört, Klimakleber härter bestraft werden müssen oder ob es einem Verbrechen gleicht, dass sich ein (kleiner) Teil der besten Fußballer in Saudi-Arabien die Taschen füllt. Man hat das Gefühl, dass es oftmals nur noch schwarz oder weiß gibt. Dabei hält die Farbpalette durchaus den einen oder anderen Grauton parat.
Da mögen jetzt manche feiern und vielleicht die Schampusflaschen aufmachen. Ob das ein Gewinn für die Meinungsfreiheit und für den Journalismus, ist eine andere Frage.
Constantin Schreiber, deutscher Journalist, Buchautor und Tagesschau-Sprecher
Ein besonders erschreckendes Beispiel in Sachen Debattenkultur ist der Fall Constantin Schreiber: Als der Tagesschau-Sprecher Ende August in der Friedrich-Schiller-Universität in Jena sein neues Buch vorstellen will, bekommt er eine Torte ins Gesicht geschleudert. Warum? Einige werfen ihm vor, islamfeindlich zu sein, sagen, seine Analysen seien nicht repräsentativ. Andere loben ausdrücklich seinen kritischen, analytischen und differenzierten Blick auf den politischen Islam. Völlig gleichgültig, auf welcher Seite man in der „Debatte“ steht: Einen tätlichen Angriff rechtfertigt das sicherlich nicht! Constantin Schreiber, der exzellent arabisch spricht, hat jedenfalls seine Konsequenzen daraus gezogen. Der Grimme-Preisträger (für die Moderation der deutsch-arabischen Sendung „Marhaba – Angekommen in Deutschland“) sagte in einem Interview der Zeitung „Die Zeit“: „Ich werde keine Bücher dazu schreiben, ich lehne Talkshow-Anfragen ab, ich mache das nicht mehr.“ Und weiter: „Da mögen jetzt manche feiern und vielleicht die Schampusflaschen aufmachen. Ob das ein Gewinn für die Meinungsfreiheit und für den Journalismus ist, ist eine andere Frage.“
Pandemie als Katalysator?!
Aber warum ist das eigentlich so, dass die Rede- und Streitkultur, und damit auch die Debatte, nicht mehr als Kernbestandteil der Demokratie angesehen wird? Dabei sollten urteilsfähige und mündige Bürger eigentlich die Grundlage unserer demokratischen Gesellschaft darstellen. Auch, wenn es hierzu sicherlich keine validen Untersuchungen gibt, hat (gefühlt) die Coronazeit die Nicht-Debattierfähigkeit der Deutschen offensichtlich gemacht. Klar, die Pandemie wird – berechtigt oder unberechtigt – für so viele Probleme verantwortlich gemacht, dennoch hat wohl kaum ein Thema so polarisiert. Beispielsweise die Frage nach dem „Pieks“ hat nicht nur für Diskussionen gesorgt, sondern bisweilen Freundschaften beendet oder Familien entzweit. Und es scheint, dass das seither bei vielen anderen Themen weitergeht. Nazi, Gutmensch, Klimaleugner, Ökofaschist, Querdenker oder Corona-Diktator sind da nur einige Extreme, die nicht wenige schon mal zu Gehör bekommen haben.
Ein weiterer Grund dürfte die Digitalisierung sein. Der Raum für gesellschaftspolitische Debatten hat sich in den letzten Jahren hierdurch exponentiell vergrößert – häufig unter dem Deckmantel der Anonymität. Im Netz kursieren und entstehen Verschwörungstheorien, Hasskommentare oder Fake News. Dass häufig dahinter ein Algorithmus steckt, was genau Usern beispielsweise in den Sozialen Medien ausgespielt wird, wissen nicht alle. Umso wichtiger wäre es, Jugendliche in einer Art Internetkompetenz zu schulen – und ihre Debattierfähigkeit zu stärken.
Betriebsräte sollten Debattierfähigkeit verinnerlicht haben
Eine Debatte bedeutet auf alle Fälle immer, einander aufmerksam zuzuhören, andere Meinungen zu respektieren und sich dabei präzise auszudrücken. Genau das sollten Betriebsräte verinnerlicht haben, schließlich geht es bei der Vertretung von Arbeitnehmerinteressen auch immer darum, die Standpunkte der Unternehmensseite zu verstehen. Mit Sturheit und Engstirnigkeit ist wohl noch niemand zum Erfolg gekommen. Ganz im Gegenteil: Rhetorische Fähigkeiten, Verhandlungsgeschick, Kommunikationsfähigkeit und eine starke Persönlichkeit sind gefragt. Und das Beste daran ist: All das können Interessenvertreter erlernen. Um damit nicht nur die Kollegen im eigenen Betrieb zu unterstützen, sondern ganz nebenbei die Debattenkultur in unserem Land wieder mehr zu pflegen. (tis)