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Tarifeinheit: Es sieht nach einem Kompromiss aus

Zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

Am 11. Juli 2017 hat das Bundesverfassungsgericht sein Urteil zur Tarifeinheit verkündet. Die Verfassungsbeschwerden von Verdi, Marburger Bund, dbb/tarifunion und anderen Gewerkschaften wurden zurückgewiesen, doch muss der Gesetzgeber bis Ende 2018 in einem wichtigen Punkt nachbessern. Dies sieht nach einem Kompromiss aus – schon deshalb lohnt es sich, die Gründe etwas näher anzuschauen.*

Professor Dr. Wolfgang Däubler

Prof. Dr. Wolfgang Däubler

Stand:  11.9.2017
Lesezeit:  04:00 min
Tarifeinheit: Es sieht nach Kompromiss aus | © AdobeStock | MQ-Illustrations

* Wer sie im Wortlaut lesen will, findet sie auf der Homepage des Bundesverfassungsgerichts (www.bundesverfassungsgericht.de) oder gibt einfach das Aktenzeichen: 1 BvR 1571/15 und „bverfg" bei Google ein.

Ausgangspunkt des Streits war der durch das Tarifeinheitsgesetz vom Juli 2015 eingefügte § 4a Abs. 2 Satz 2 Tarifvertragsgesetz. Er bestimmt: Gibt es im Betrieb für dieselbe Personengruppe zwei (oder mehr) Tarifverträge, so setzt sich der Tarif durch, der von der Gewerkschaft mit der größten Mitgliederzahl im Betrieb abgeschlossen wurde. Der Tarifvertrag der in der Minderheit befindlichen Gewerkschaft wird verdrängt und kommt nur dann wieder zur Geltung, wenn – aus welchen (unwahrscheinlichen) Gründen auch immer – der Mehrheitstarif seine Gültigkeit verliert.

Da Lokführer, Ärzte und Piloten in ihren Betrieben typischerweise in der Minderheit sind, bleiben ihre Tarifverträge ohne Wirkung. Dann wird es auch keine Streiks mehr geben, denn wer kämpft schon für Inhalte, von denen er gar nichts hat? Das jedenfalls war die Absicht der Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD, die sich der Unterstützung durch die Arbeitgeberverbände und durch IG Metall und IG BCE sicher sein konnte. Lässt sich dieses Ziel nach der Karlsruher Entscheidung noch verwirklichen?

Die Antwort ist ein klares „Nein". Das Gericht hat zahllose Möglichkeiten offen gelassen, um eine solche Situation zu verhindern.

1. Streikrecht bleibt

Zunächst hat es sich in überraschender Deutlichkeit zum Streikrecht bekannt und betont, auch wenn eine Gewerkschaft erkennbar in der Minderheit sei, könne sie für einen Tarifvertrag streiken. Wenn sie dies effektiv tut – wird dann die Arbeitgeberseite den Tarifvertrag unter Berufung auf das Mehrheitsprinzip aus dem Weg räumen? Formal könnte sie es, aber wie würden wohl die Ärzte reagieren, wenn man ihnen „ihren" Tarifvertrag auf diese Weise wegnehmen würde? Vielleicht würden plötzlich viele von ihnen krank („der Kollege bestätigt die Arbeitsunfähigkeit"), und manche würden verstärkt nach einer Beschäftigung im Ausland suchen. Ein vernünftiger Arbeitgeberverband wird deshalb nicht auf die Idee verfallen, sich auf das Tarifeinheitsgesetz zu berufen. Ein einzelner unvernünftiger Arbeitgeber wird es vielleicht tun – aber er wird die Konsequenzen umgehend zu spüren bekommen.

2. Mehrere Tarifverträge im Betrieb

Durch Tarifvertrag kann man vereinbaren, dass im Betrieb mehrere Tarifverträge gelten sollen. Die Tarifeinheit kann daher „abbedungen" werden – so ausdrücklich das Bundesverfassungsgericht. Voraussetzung ist nur, dass sich Arbeitgeber und beteiligte Gewerkschaften darüber einig sind. Bei der Bahn ist dies kurz vor Inkrafttreten des Tarifeinheitsgesetzes gelungen; auch die EVG hat mitgemacht. Ein solcher „Abgrenzungstarif" kann – wie jeder Tarifvertrag – durch Streik erkämpft werden.

3. Grenzen der Verdrängung

Eine Gewerkschaft, die Schwierigkeiten hat, einen Streik zu organisieren, bleibt ebenfalls nicht ungeschützt. Die Verdrängungswirkung des Mehrheitstarifs hat deutliche Grenzen, obwohl davon im Gesetz selbst nicht das Geringste steht.

Nicht verdrängt werden Tarifnormen, die Fragen regeln, auf denen die Lebensplanung des Einzelnen beruht. Unkündbarkeit, tarifliche Altersgrenzen, betriebliche Altersversorgung und Ausbildungsansprüche zählen dazu. Sie sind auch für die Mehrheit tabu.

Wenn im Minderheitstarif eine Regelung enthalten ist, die keine Entsprechung im Mehrheitstarif hat, die nicht einmal in das „Gesamtpaket" bei Tarifabschluss eingegangen ist, dann bleibt sie erhalten. Die Mehrheit hat beispielsweise nur über Lohn verhandelt, im Minderheitstarif sind aber wichtige Fragen zur Schichtarbeit geregelt – sie bleiben unangetastet.

4. Übernahme des Tarifvertrags

Die Minderheitsgewerkschaft kann den Tarifvertrag der Mehrheit „nachzeichnen", d.h. übernehmen, so dass er wie ein eigener Tarifvertrag wirkt. Dies ist ein „Ersatz" dafür, dass sie ihren eigenen Tarif verliert. Entgegen dem Wortlaut des Gesetzes gilt dies auch für solche Gegenstände, die der Minderheitstarif gar nicht geregelt hat. Die Mehrheit hat beispielsweise eine jährliche Ertragsbeteiligung ausgehandelt, die es im Minderheitstarif nicht gibt – darauf könnte die Minderheit dann gleichfalls zugreifen.

5. Gebührende Rücksichtnahme

In der Praxis kann der Fall eintreten, dass die Minderheit zu gar keinem eigenen Tarif kommt und deshalb auch kein Nachzeichnungsrecht hat. In diesen Fällen muss der Mehrheitstarif auf ihre Interessen Rücksicht nehmen. Journalisten haben beispielsweise in ihrem Tarifvertrag Regeln über die innere Pressefreiheit vereinbart – der Mehrheitstarif kümmert sich darum nur am Rande. Hier tritt die Verdrängungswirkung nur ein, wenn der Mehrheitstarif in ausreichendem Maße auch diesen Punkt regelt. Was hier verlangt werden kann, ist unklar – deshalb muss der Gesetzgeber nachbessern und eine Regelung schaffen, die für einen Schutz der Minderheit im Betrieb wie in der Branche sorgt. Bis eine solche Regelung vorliegt, sind zwar Mehrheitstarife möglich, müssen aber gebührende Rücksicht nehmen.

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Was folgt aus all dem?

Man ist versucht, von einem Beschäftigungsprogramm für Juristen zu reden. Ist die „Lebensplanung" auch dann betroffen, wenn die ordentliche Kündigung nur für drei Jahre ausgeschlossen ist? Gehörte ein bestimmter Gegenstand wirklich zum „Gesamtpaket"? Muss man auch auf die Vergütungsstrukturen der Minderheit Rücksicht nehmen? Hier lassen sich vortrefflich lange Schriftsätze und nicht weniger lange Rechtsgutachten schreiben. Wird es dazu überhaupt kommen?

Nach der Einschätzung des Verfassers wird das Bahn-Modell Schule machen: Die Beteiligten vereinbaren, wer für welche Beschäftigtengruppe zuständig ist. Im Bereich der Ärzte gibt es bereits eine entsprechende Praxis: Im Regelfall werden die Tarifverträge des Marburger Bundes zugrunde gelegt. Wenn ein Arzt den Wunsch hat, nach Verdi-Tarif behandelt zu werden, wird dem Rechnung getragen. Warum sollten entsprechende Modelle nicht auch bei der Lufthansa und anderen Fluggesellschaften möglich sein?

Was wird aus der Tarifgemeinschaft zwischen Verdi und dbb/tarifunion für den öffentlichen Dienst? Sie aufzulösen, würde für beide Seiten enorme Risiken mit sich bringen. Wer ist wo in der Mehrheit? Was bleibt ggf. vom Minderheitstarif übrig? Beides lässt sich schwer einschätzen. Die Arbeitgeberseite wird befürchten, dass mit Hilfe des Nachzeichnungsrechts eine Art Rosinentheorie praktiziert wird. Unsere Tarifparteien sind keine Hasardeure: Warum sich auf solche Risiken einlassen, wenn man bisher mit der Tarifgemeinschaft ganz gut zurecht gekommen ist? Also bleibt alles beim Alten.

Wie steht es mit dem Konflikt zwischen Verdi und IG Metall im Bereich der Kontaktlogistik, wo man sich vor einiger Zeit heftig „gefetzt" hat? Für Verdi wird es schwieriger, in einem Bereich Fuß zu fassen, wo bisher die IG Metall dominiert hat. Möglicherweise wird hier das Mehrheitsprinzip tatsächlich einmal verwirklicht, weil die Minderheit keinen Tarifvertrag erreicht, erreicht, weil ein „Minderheitenschutz" mangels spezifischer Minderheitsinteressen nicht zum Tragen kommt.

Wenn dem so ist – nun gut. Aber hat sich dafür der ganze Aufwand gelohnt? Der Gesetzgeber hätte sich besser um die Frage gekümmert, wie man etwas gegen die Tarifflucht der Arbeitgeber unternehmen kann.

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