Im Mai 2014 legte die Bundesregierung einen Gesetzesentwurf zur Stärkung der Tarifautonomie vor. Das „Tarifautonomiestärkungsgesetz“ sollte angemessene Arbeitsbedingungen für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sicherstellen. In der Begründung zu ihrem Gesetzesentwurf stellte die Bundesregierung fest, dass die Tarifvertragsparteien wegen der sinkenden Tarifbindung in Deutschland, vor allem im Bereich einfacher Tätigkeiten, nicht mehr selbst in der Lage seien, die Menschen vor unangemessen niedrigen Löhnen zu schützen. Die bisherigen gesetzlichen Regelungen, wie das Arbeitnehmerentsendegesetz oder die Allgemeinverbindlichkeitserklärung nach § 5 Tarifvertragsgesetz, seien nicht mehr ausreichend, um den Lohnunterbietungswettbewerb mancher Unternehmen zu stoppen. Mit dem am 11. August 2014 in Kraft getretenen Tarifautonomiestärkungsgesetz wurden daher zum einen diverse, bereits bestehende gesetzliche Regelungen überarbeitet und zum anderen das ganz neue Mindestlohngesetz (MiLoG) geschaffen.
Änderungen durch das Tarifautonomiestärkungsgesetz
Das Tarifautonomiestärkungsgesetz ändert – als so genanntes Artikelgesetz – neben der Einführung des Mindestlohngesetzes folgende Gesetze:
- Arbeitsgerichtsgesetz
- Schwarzarbeitsbekämpfungsgesetz
- Verdienststatistikgesetz
- Nachweisgesetz
- Tarifvertragsgesetz
- Arbeitnehmerentsendegesetz
- Arbeitnehmerüberlassungsgesetz
- SGB IV, SGB III, SGB X
- Gewerbeordnung
- Vergabeverordnung Verteidigung und Sicherheit
- Beitragsverfahrensordnung
In den meisten genannten Gesetzen wurden in erster Linie redaktionelle Anpassungen vorgenommen. Für die betriebliche Praxis von Betriebsräten dürfte die Einführung des Mindestlohngesetzes die wichtigste Neuerung sein. Das Mindestlohngesetz soll dazu beitragen, dass existenzsichernde Löhne gezahlt und dadurch auch die Sozialversicherungskassen entlastet werden.
Flächendeckender Mindestlohn
Ab dem 01.01.2015 gilt für alle Beschäftigten ein grundsätzlich flächendeckender Mindestlohn von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde. Soweit in bestimmten Branchen aufgrund von Rechtsverordnungen höhere Mindestlöhne gelten, haben diese Vorrang. In folgenden Branchen gelten spezifische Mindestlöhne (Stand Oktober 2014):
- Baugewerbe
- Bergbau
- Berufliche Aus- und Weiterbildung
- Dachdecker
- Elektrohandwerk
- Fleischwirtschaft
- Friseurhandwerk
- Gebäudereinigung
- Gerüstbau
- Maler- und Lackierer
- Pflege
- Schornsteinfeger
- Wäscherei
- Zeitarbeit
Ausnahmen
An ungewöhnlicher Stelle – nämlich erst unter Abschnitt 4 „Schlussvorschriften“ – regelt das Mindestlohngesetz den persönlichen Anwendungsbereich. Hier werden vom Grundsatz des flächendeckenden Mindestlohnes Ausnahmen für folgende Beschäftigtengruppen gemacht:
- Schülerpraktikanten
- Orientierungspraktika von bis zu drei Monaten
- Ausbildungsbegleitende Praktika
- Minderjährige ohne abgeschlossene Berufsausbildung
- Auszubildende
- Ehrenamtliche Mitarbeiter
- Langzeitarbeitslose in den ersten sechs Monaten eines Beschäftigungsverhältnisses
Für Zeitungszusteller wird der Mindestlohn stufenweise ab dem 01.01.2015 bis zum 01.01.2017 von 6,38 Euro auf 8,50 angeglichen. Interessant ist für Betriebsräte an dieser Stelle auch, dass der Gesetzgeber zum ersten Mal das „Praktikum“ in § 22 Abs. 1 Satz 3 MiLoG definiert.
Anrechenbare Lohnbestandteile
Noch nicht abschließend geklärt ist die Frage, welche Lohnbestandteile auf den Mindestlohn angerechnet werden dürfen. Wie verhält es sich zum Beispiel, wenn der Grundstundenlohn zwar nur 7 Euro beträgt, jedoch eine Zulage oder Zuschläge in Höhe von 1,50 Euro je Stunde gezahlt werden? Dürfen Einmalzahlungen wie Weihnachts- und Urlaubsgeld angerechnet werden?
Das Gesetz enthält hierzu keine Regelungen. Nach Ansicht der Bundesregierung soll entsprechend der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes zur Entsenderichtlinie darauf abgestellt werden, ob die Zahlung für die „Normalleistung“ des Arbeitnehmers erfolgt. Danach dürfen Zuschläge für besondere Erschwernisse wie Nachtarbeit, Schichtzulagen oder Qualitätsprämien nicht berücksichtigt werden.
Einmalzahlungen können allenfalls in dem Monat berücksichtigt werden, in dem sie zur Auszahlung kommen. Der Mindestlohn ist nämlich jeweils spätestens bis zum letzten Bankarbeitstag des auf den Arbeitsmonat folgenden Monats zu zahlen. Das bedeutet, dass der Arbeitgeber jeden Monat mit folgender Rechnung prüfen muss, ob er den Mindestlohn eingehalten hat: Tatsächlich ausgezahltes Bruttomonatsgehalt geteilt durch tatsächlich geleistete Monatsstunden = mindestens 8,50 Euro brutto. Dies gilt auch und gerade für geringfügig Beschäftigte. In einigen Betrieben werden die Schichten zum Teil erst im übernächsten Monat abgerechnet. Zuschläge für Wechselschicht werden damit erst nach dem Fälligkeitszeitpunkt gemäß § 2 Abs. 1 MiLoG ausbezahlt. Diese Betriebe sollten prüfen, ob der Mindestlohn nach der oben dargestellten Rechnung erreicht wird.
Häufig wird für Bereitschaftsdienste eine herabgesetzte Vergütung bezahlt. Tendenzen in der Rechtsprechung weisen darauf hin, dass auch für Bereitschaftsdienste der Mindestlohn zu zahlen sein wird. So hat das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 28.11.2012 (4 Sa 48/12) bereits für den Pflegemindestlohn entschieden, dass Bereitschaftsdienste nicht geringer als mit dem Mindestlohn vergütet werden dürfen. Die Frage ist unter dem Aktenzeichen 5 AZR 1101/12 beim Bundesarbeitsgericht anhängig und wird dort im November 2014 verhandelt. Wichtig an dieser Stelle ist noch, dass der Nachtarbeitszuschlag gemäß § 6 Abs. 5 Arbeitszeitgesetz zusätzlich zum Mindestlohn zu zahlen ist.
Arbeitszeitkonten
Auch die Handhabung der betrieblichen Arbeitszeitkonten sollten alle Betriebsräte prüfen: Hierzu enthält § 2 Abs. 2 MiLoG eine wichtige Vorschrift, nach der Überstunden binnen 12 Monaten auszugleichen sind. Zudem wird das monatlich zulässige Überstunden-Saldo auf 50 Prozent der vertraglich vereinbarten Arbeitszeit beschränkt, soweit nicht bereits durch die Auszahlung des verstetigten Grundgehaltes der Mindestlohn erreicht wird.
Dies wird an folgendem Beispiel deutlich: Arbeitgeber und Arbeitnehmer vereinbaren eine monatliche Arbeitszeit von 100 Stunden bei einem Bruttomonatsgehalt von 1.500 Euro. Zunächst erscheint das Mindestlohngesetz bei einem Stundenlohn von 15 Euro brutto also nicht relevant. Wenn jetzt jedoch der Arbeitnehmer in einem Monat 100 Überstunden ableistet und diese in ein Zeitkonto eingespeist werden sollen, ist zu prüfen, ob die Vorgaben des Mindestlohngesetz eingehalten werden. Es ist zunächst zu klären, ob nicht bereits durch die Zahlung des Grundlohnes die Stunden mindestlohnrechtlich abgegolten sind: 1.500 Euro Bruttogehalt : 200 Stunden = 7,50 Euro. Da die tatsächlich geleisteten Stunden nicht bis zur Fälligkeit mit dem Mindestlohn von 8,50 Euro vergütet würden, dürfen maximal 50 % der Überstunden, in unserem Fall also 50 Stunden, in das Zeitkonto eingestellt werden.
Die vorgenannte Regelung gilt nicht für Langzeitkonten nach dem SGB IV, welche die Arbeitnehmer für Freistellungen beispielsweise zur Altersteilzeit oder Pflegezeit nutzen können.
Unabdingbarkeit und Ausschlussfristen
Eine wichtige Grundregel im praktischen Umgang mit dem Mindestlohn ist: Selbst den Mindestlohn übersteigende Stundenlöhne enthalten jedenfalls 8,50 Euro Mindestlohn, für den die gesetzlichen Regelungen gelten (§ 20 MiLoG). Gemäß § 3 des MiLoG kann der Mindestlohn nicht ausgeschlossen werden. Vereinbarungen, die seine Geltendmachung einschränken, sind unwirksam. Dies gilt nicht nur für Arbeitsverträge, sondern auch für Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge.
Die meisten Tarif- und Arbeitsverträge enthalten so genannte Ausschlussfristen. Hierin ist geregelt, dass Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis binnen einer bestimmten Frist (häufig drei Monate) geltend gemacht werden müssen und ansonsten verfallen. Bisher hatte also ein Arbeitnehmer, dessen Arbeitsvertrag eine dreimonatige Ausschlussfrist regelt, nur bis April Zeit, Lohnansprüche aus dem Monat Januar geltend zu machen. Soweit sie den Mindestlohn erfasst, wird diese Ausschlussfrist jetzt jedoch gemäß § 3 MiLoG unwirksam. Jedenfalls die 8,50 Euro pro gearbeitete Stunde kann der Arbeitnehmer also nun auch nach Ablauf der Ausschlussfrist geltend machen.
Haftung des Auftraggebers
Bei der Beauftragung von Fremdfirmen im Rahmen von Werk- oder Dienstverträgen ist zu beachten, dass das beauftragende Unternehmen gemäß § 13 MiLoG in Verbindung mit § 14 Arbeitnehmerentsendegesetz für die Zahlung des Mindestlohnes für alle Nachunternehmer haftet. Eine derartige Durchgriffshaftung sowie empfindliche Bußgeldzahlungen von bis zu 500.000 Euro können schnell auch das eigene Unternehmen in eine wirtschaftliche Schieflage bringen und Arbeitsplätze gefährden. Hierfür sollte im Unternehmen ein Bewusstsein geschaffen werden.
Betriebsräte sollten daher darauf drängen, dass ihr Unternehmen auf einer Erklärung des Subunternehmers besteht, dass er und auch die von ihm etwaig beauftragten Nachunternehmer den Mindestlohn zahlen. Diese Bescheinigung sollte der Betriebsrat einsehen. Ein entsprechender Anspruch ergibt sich aus § 80 Abs. 2 BetrVG. Soweit ein Wirtschaftsausschuss gebildet wurde, ergibt sich der Unterrichtungsanspruch aus § 106 Abs. 3 Nr. 10 BetrVG.
Fazit
Auch wenn der Arbeitgeber einen höheren Grundlohn als 8,50 Euro zahlt, findet das Mindestlohngesetz Anwendung. Arbeitgeber sind gut beraten, unabhängig von Zusatzleistungen, bis zum 01.01.2015 den Stundensatz ihrer Arbeitnehmer auf 8,50 Euro zu erhöhen. Auch wenn viele Einzelfragen zur Anrechnung diverser Vergütungsbestandteile auf den Mindestlohn noch durch die Rechtsprechung zu klären sein werden, schützt die aktuelle Unsicherheit nicht vor späteren Strafen. Vor allzu kreativen Lohnmodellen kann deshalb nur gewarnt werden. Die Durchgriffshaftung des Auftraggebers für Mindestlohnverstöße von Nachunternehmen kann ein Argument gegen Outsourcing und Fremdvergabe sein. Betriebsräte sollten ihre Unterrichtungs- und Beratungsrechte nutzen, um sich einen Überblick zu verschaffen, in welchen Bereichen der Mindestlohn auch in ihrem Betrieb relevant ist.