Schwerbehindertenvertreter sind oft selbst von einer Behinderung oder einer chronischen Erkrankung betroffen, auch deshalb können sie die Herausforderungen und Sorgen der betroffenen Kollegen gut verstehen und nachvollziehen. Durch ihre eigenen Erfahrungen bringen sie meist eine hohe Empathie und ein tiefes Verständnis für deren Nöte mit.
Vorsicht vor Entgrenzung
Allerdings kann diese persönliche Betroffenheit auch zu einer intensiven emotionalen Belastung führen. Man spricht dann von „Entgrenzung“ – das eigene emotionale Leid wird reaktiviert und die Grenze zum Leid der anderen Person verschwimmt. Eine psychische Überlastung ist vorprogrammiert.
Ein Beispiel verdeutlicht die Situation: Ein Mitarbeiter, der an einer chronischen Krankheit leidet und nur eingeschränkt arbeitsfähig ist, hat Angst, seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Die Vertrauensperson, die ähnliche Erfahrungen gemacht hat, fühlt sich stark in die Situation des Mitarbeiters hineinversetzt. Immer wieder ist sie an ihre eigene Geschichte erinnert und übersieht, dass ihr Gegenüber andere Wünsche an seine Situation hat. Die Vertrauensperson muss nun zwischen dem Mitarbeiter und dem Arbeitgeber vermitteln, Lösungen finden und Unterstützung anbieten. Um dabei die Bedürfnisse des Betroffenen einzufordern und nicht ihren eigenen Überzeugungen zu folgen, darf sie sich nicht von der persönlichen Betroffenheit beeinflussen lassen.
Schwerbehindertenvertreter müssen die Fähigkeit entwickeln, sich emotional von den Problemen der Mitarbeiter abzugrenzen, ohne ihre Empathie zu verlieren.
Emotionale Abgrenzung ohne Empathieverlust
Um als SBV hilfreich zu sein und andere zu unterstützen, ist es zudem wichtig, eine klare Grenze zwischen dem beruflichen Engagement und dem persönlichen Leben zu ziehen. Schwerbehindertenvertreter müssen die Fähigkeit entwickeln, sich emotional von den Problemen der Mitarbeiter abzugrenzen, ohne ihre Empathie zu verlieren. Nur so können sie psychisch stabil bleiben und ihre Aufgaben langfristig effektiv erfüllen.
Hier sind einige praktische Tipps, wie emotionale Abgrenzung gelingen kann:
► Verstehen Sie Ihr Amt als professionelle Dienstleistung!
Um professionelle Distanz zu wahren, führen Sie sich zunächst vor Augen, dass Sie sich als SBV in einer Rolle befinden, die sich deutlich von privaten Rollen unterscheidet. Um dies zu verdeutlichen, führte ich kürzlich im Rahmen einer Schulung folgende Übung durch: In einer Tabelle haben wir in der ersten Spalte gesammelt, was wir von einem guten Freund erwarten: Vertrauen, Unterstützung, Mitgefühl, miteinander Spaß haben, Wertschätzung, Verlässlichkeit. In der zweiten Spalte haben wir aufgeführt, was wir von einer professionellen Beratung erwarten: Vieles, was bei einer guten Freundschaft wichtig ist, fand sich hier wieder. Es gab aber entscheidende Unterschiede: So erwarten wir nicht, dass der Hilfesuchende sich mitfühlend nach dem Befinden des Beraters erkundigt oder ihm sogar ebenfalls Beratung anbietet. In dem Sinne erfolgt kein „Ausgleich“ der Leistung oder eine Gegenseitigkeit wie bei einer freundschaftlichen Beziehung. (Ähnlich störend würden wir es in einer Arzt-Patient-Beziehung empfinden, wenn dieser uns berichtet, er wisse manchmal auch nicht, wie er seine Kopfschmerzen in den Griff bekommen soll).
Wichtig: Beratung muss einseitig bleiben, damit eine emotionale und damit gesunde Distanz erhalten bleibt. Diese sorgt auch dafür, dass Sie am Abend mit gutem Gewissen abschalten können.
Zu der Rolle gehört auch, dass Sie klar kommunizieren, wo Ihre Grenzen liegen, bevor Missverständnisse entstehen. So sollte deutlich sein, wann Sie erreichbar sind (während der Bürozeiten) und wann nicht (nach Feierabend)!
► Schärfen Sie Ihr Bewusstsein durch Selbstbeobachtung!
Sie haben schon einige Male Ihre eigenen Grenzen überschritten und es lange nicht gemerkt? Nutzen Sie die Erfahrung, um daraus zu lernen! Überlegen Sie: Wann fing es an? Wann und woran hätten Sie es merken können? Gab es Signale (Bauch, Körper, Hinweise aus dem sozialen Umfeld)? Führen Sie ein Tagebuch, um die eigenen Emotionen und den persönlichen Stresslevel kennenzulernen, damit Sie rechtzeitig gewarnt sind. Äußerst hilfreich sind auch regelmäßigen Treffen mit SBV- Kollegen oder in speziellen Supervisionsgruppen. Der Erfahrungsaustausch mit Gleichgesinnten führt zu einer besseren Verarbeitung von emotionalen Belastungen, und man kann gemeinsam nach Lösungen für Probleme suchen.
► Üben Sie sich in Achtsamkeit und Entspannungstechniken!
Regelmäßige Achtsamkeitsübungen wie Meditation oder Atemtechniken können helfen, im Moment zu bleiben und sich nicht von den Emotionen anderer überwältigen zu lassen. Besuchen Sie einen Kurs, um sich selbst besser kennenzulernen und zu entspannen, wenn es mal wieder zu viel war. Hilfreich sind auch Verfahren wie die Progressive Muskelentspannung, Yoga oder autogenes Training, um körperliche und geistige Anspannung abzubauen.
Begrenzen Sie die Zeit, wenn Sie Gespräche mit Betroffenen führen.
► Sorgen Sie für klare Arbeitsstrukturen und ein effektives Zeitmanagement!
Eine effektive Zeitplanung und das Setzen von Prioritäten helfen, den Arbeitsalltag zu strukturieren und Überlastung zu vermeiden. Begrenzen Sie die Zeit, wenn Sie Gespräche mit Betroffenen führen. Auf diese Weise ist man gezwungen, auf ein Ziel hinzuarbeiten und kann sich nicht im Mitleid „verlieren“. Wichtig bei der Zeitplanung sind zudem Pausen, um Zeit nach den Gesprächen für Reflexion und gedanklichen Abstand zu nutzen und wieder Kraft zu tanken!
► Schaffen Sie Grenzen zwischen Job und Privatleben!
Wenn Sie merken, dass Sie oft nicht abschalten können, kann es helfen, deutliche „Grenzen“ zwischen der Arbeit und der Zeit zur Erholung zu ziehen. Folgende Tipps mit neuro-wissenschaftlichem Hintergrund schaffen Abhilfe: Schreiben Sie alle Gedanken, die Sie am Ende des Arbeitstages beschäftigen auf einen Zettel und hinterlegen Sie diesen bewusst gut verschlossen im Betrieb. Im Homeoffice kann man sich eine kleine Kassette (ja, ruhig mit Schlüssel!) zulegen, in der die Gedanken und Unerledigtes weggesperrt werden. Sie können sich auch zwischen Arbeitsort und zuhause einen Ort aussuchen (ein Baum, eine Bank etc.), an dem Sie Ihre Arbeit in Gedanken lassen. Am nächsten Tag sammeln Sie die Gedanken wieder ein – das klingt merkwürdig, aber tatsächlich können wir unser Gehirn mit solchen klaren Anweisungen für uns arbeiten lassen. Versuchen Sie es, denn nur ein gesunder Abstand von den Problemen anderer Menschen hilft Ihnen, mit voller Kraft für die Hilfesuchenden da zu sein.