Am 14.05.2019 entschied der EuGH, dass die EU-Mitgliedstaaten die Arbeitgeber verpflichten müssen, ein objektives, verlässliches und zugängliches System einzuführen, mit dem die von einem jeden Arbeitnehmer geleistete tägliche Arbeitszeit gemessen werden kann (EuGH, 14.09.2019 - C-55/18).
Dies sei erforderlich, um den Sicherheits- und Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer nach den Vorgaben der Arbeitszeit-RL (2003/88/EG) zu gewährleisten und Art. 31 Abs. 2 Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GrCh) Rechnung zu tragen. Ausnahmen könnten gemacht werden, wenn die Dauer der Arbeitszeit wegen besonderer Merkmale der ausgeübten Tätigkeit nicht bemessen und/oder vorherbestimmt ist oder von den Arbeitnehmern selbst bestimmt werden kann. Ebenso könnten die Besonderheiten des jeweiligen Tätigkeitsbereichs, sogar die Unternehmensgröße, bei der nationalen Regelung berücksichtigt werden.
Der vom EuGH ausgesprochenen Verpflichtung ist der deutsche Gesetzgeber bisher nicht nachgekommen.
Keine Umsetzung durch den deutschen Gesetzgeber
Der vom EuGH ausgesprochenen Verpflichtung ist der deutsche Gesetzgeber bisher nicht nachgekommen. Anfang Februar 2022 legte das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) zwar mit dem „Entwurf eines Zweiten Gesetzes zu Änderungen im Bereich der geringfügigen Beschäftigung“ einen Referentenentwurf vor, nach dem zumindest Arbeitgeber zu einer elektronischen manipulationssicheren Aufzeichnung der täglichen Arbeitszeit (Beginn, Ende und Dauer) gesetzlich verpflichtet werden sollten, die geringfügige Beschäftigte (§ 8 Abs. 1 SGB IV) oder Arbeitnehmer in einem der in § 2a des Schwarzarbeitbekämpfungsgesetzes genannten Wirtschaftsbereichen oder Wirtschaftszweigen beschäftigen (geplante Neufassung des § 17 Abs. 1 S. 1 MiLoG). Der darauf folgende Regierungsentwurf vom 23.02.2022 griff diesen Vorschlag jedoch nicht weiter auf.
Das Urteil des Arbeitsgerichts Emden wurde angegriffen.
Einrichtungspflicht trotz fehlender nationaler Regelung?
Trotz fehlender nationaler Regelung entschied das Arbeitsgericht Emden am 20.02.2020 (2 Ca 94/19) – vor dem Hintergrund des EuGH-Urteils – im Zusammenhang mit der Darlegungs- und Beweislast im Vergütungsprozess (Überstunden), dass Arbeitgeber unmittelbar aus Art. 31 Abs. 2 GrCh verpflichtet sind, ein objektives, verlässliches und zugängliches System zur Erfassung der täglichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer einzurichten. Ein solches System hatte der beklagte Arbeitgeber nicht. Den vom klagenden Arbeitnehmer vorgetragenen Arbeitszeiten könne er damit keine objektiven und verlässlichen Daten entgegensetzen, anhand derer sich die Arbeitszeiten nachvollziehen lassen. Für eine schlüssige Begründung der Klage sei daher ausreichend, wenn die Zahl der geleisteten Überstunden vorgetragen werden.
Das Urteil des Arbeitsgerichts Emden wurde angegriffen. Die zweite Instanz, das LAG Niedersachsen hob es am 06.05.2021 auf (5 Sa 1292/20); die Klage des Arbeitnehmers wurde abgewiesen. Begründung: Dem EuGH fehle die Kompetenz zu Fragen der Arbeitsvergütung mit Verweis auf Art. 153 Abs. 5 AEUV. Auch befasse sich der EuGH in seinem Urteil nur mit Fragen des Arbeitsschutzes und der effektiven Begrenzung der Höchstarbeitszeit im Sinne des Gesundheitsschutzes. Aus dem EUGH-Urteil lasse sich somit nichts für die Darlegungs- und Beweislast für den Überstundenprozess ableiten.
Der Ball wurde zum BAG weitergespielt. Am 04.05.2022 wiesen die Erfurter Arbeitsrichter die Revision des Arbeitnehmers zurück (5 AZR 359/21). Laut BAG-Pressemitteilung vom 04.05.2022 folgten die Erfurter Richter dabei der der Vorinstanz: Die Entscheidung des EuGH sei zur Auslegung und Anwendung der Arbeitszeitrichtlinie 2003/88/EG und von Art. 31 GrCh ergangen. Diese Bestimmungen würden sich – nach gesicherter Rechtsprechung des EuGH – darauf beschränken, die Aspekte der Arbeitszeitgestaltung zu regeln, um den Schutz der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer zu gewährleisten. Sie fänden grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung. Die unionsrechtlich begründete Pflicht zur Messung der täglichen Arbeitszeit habe deshalb keine Auswirkung auf die nach deutschem materiellen und Prozessrecht entwickelten Grundsätze über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislast im Überstundenprozess.
Das LAG Düsseldorf hält ein Initiativrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG für denkbar.
Initiativrecht des Betriebsrats?
So lange der deutsche Gesetzgeber keine Initiative ergreift, kann dann der Betriebsrat die Initiative zur Einrichtung eines Arbeitszeiterfassungssystem nach den Vorgaben des EuGH ergreifen und durchsetzen?
Den Ansatzpunkt hierfür liefert das Mitbestimmungsrecht aus § 87 Abs. 1 BetrVG. Nach dieser Vorschrift bestimmt der Betriebsrat in den Fällen der Nr. 1 bis 14 mit, soweit keine gesetzliche oder tarifliche Regelung besteht. Bei der Arbeitszeiterfassung stehen die Nr. 6 und 7 im Fokus. Gäbe es ein Initiativrecht, könnte die elektronische Arbeitszeiterfassung über die Einigungsstelle durchgesetzt werden (§ 87 Abs. 2 BetrVG).
Das BAG verneinte allerdings 1989 ein Initiativrecht des Betriebsrats aus § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG hinsichtlich der Einführung einer maschinellen Arbeitszeiterfassung (BAG, 28.11.1989, 1 ABR 97/88). Das Mitbestimmungsrecht umfasse zwar, dass sowohl Arbeitgeber als auch Betriebsrat die Initiative für eine erstrebte Regelung ergreifen und zu deren Herbeiführung erforderlichenfalls die Einigungsstelle anrufen können, das Initiativrecht des Betriebsrat sei aber begrenzt durch Inhalt, Sinn und Zweck des jeweiligen Mitbestimmungsrechts. Zweck des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG sei es, Eingriffe in den Persönlichkeitsbereich der Arbeitnehmer durch technischer Kontrolleinrichtungen, die das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer überwachen können, abzuwehren. Dem widerspräche es, so argumentiert das BAG, wenn der Betriebsrat selbst die Einführung einer solchen technischen Kontrolleinrichtung verlangen könnte.
Diese Entscheidung hat seither die meisten Instanzgerichte veranlasst, ein Initiativrecht des Betriebsrats zur Einführung einer technischen Kontrolleinrichtung abzulehnen und dieses sogar als offensichtlich nicht bestehend anzunehmen.
Das LAG Berlin-Brandenburg überzeugte diese Rechtsprechung jedoch nicht und entschied 2015 im Rahmen eines Einigungsstellenbesetzungsverfahrens, dass dem Betriebsrat auch im Bereich des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG ein Initiativrecht bei der Einführung einer elektronischen Zeiterfassungssystems zustünde (LAG Berlin-Brandenburg, 22.1.2015, 10 TaBV 2124/14). Zwar sei es zutreffend, dass der Betriebsrat in der Regel einen Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer eher verhindern als ermöglichen will, aber es sei nicht von vornherein ausgeschlossen, dass es andere schützenswerte Rechte gibt, die dem Persönlichkeitsschutz überwiegen. Soweit sich aus den Resultaten solcher Initiativen Unvereinbarkeiten mit geschützten Persönlichkeitsrechten der Arbeitnehmer ergäben, erfolge die Abgrenzung nicht beim Initiativrecht, sondern durch die „Binnenschranken der Betriebsautonomie“.
Auf dieser Linie befinden sich auch die im Anschluss ergangenen Entscheidungen der LAG Hamm (04.06.2019, 7 TaBV 93/18; 27.7.2021, 7 TaBV 79/20), München (10.8.2021 – 3 TaBV 31/21) und Düsseldorf (24.8.2021 – 3 TaBV 29/21). In seiner Entscheidung vom 27.7.2021 schreibt das LAG Hamm – wie zuvor das LAG Berlin-Brandenburg – deutlich: „Dem Betriebsrat steht bei der Einführung einer elektronischen Zeiterfassung ein Initiativrecht zu.“ So kritisierte es die Qualifikation des § 87 Abs. 1 Nr. 6 BetrVG durch das BAG als „Abwehrrecht“, folge doch aus der Formulierung „mitzubestimmen“, dass es sich um ein Recht auf Mitgestaltung, und nicht lediglich um ein sogenanntes Veto- oder Abwehrrecht handele. Das LAG Düsseldorf kehrt der ein Initiativrecht verneinenden Entscheidung des BAG nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund der EuGH-Rechtsprechung vom 14.05.2019 den Rücken; zudem hält es auch ein Initiativrecht aus § 87 Abs. 1 Nr. 7 BetrVG zur Vermeidung von Selbstausbeutung im Rahmen von Vertrauensarbeitszeit für denkbar.
Es bleibt abzuwarten, wie das BAG diese Rechtsfrage entscheidet. Gegen die Entscheidung des LAG Hamm vom 27.7.2021 wurde Rechtsbeschwerde eingelegt. Der Sitzungstermin in Erfurt ist für den 13.09.2022 anberaumt.
Für den Arbeits- und Gesundheitsschutz ist ein Arbeitszeiterfassungssystem zu wünschen.
Ausblick
Im Hinblick auf den Arbeits- und Gesundheitsschutz ist ein Arbeitszeiterfassungssystem zu wünschen. Nur das ermöglicht es, die Einhaltung der gesetzlichen, tariflichen und betrieblichen Arbeitszeitregelungen überprüfen zu können. Schließlich benötigt der Betriebsrat nach dem BAG für seine Überwachungsaufgabe nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG im Hinblick auf die Einhaltung der gesetzlichen Ruhezeiten und eventuell der tariflichen wöchentlichen Arbeitszeit Kenntnis von Beginn und Ende der täglichen und vom Umfang der tatsächlich geleisteten wöchentlichen Arbeitszeit der Arbeitnehmer. Dies soll der Arbeitgeber auch nicht mit der Begründung verweigern können, er wolle die tatsächliche Arbeitszeit wegen einer im Betrieb eingeführten Vertrauensarbeitszeit bewusst nicht erfassen (BAG vom 06.05.2003 - 1 ABR 13/02), was für sich bereits eine Arbeitszeiterfassung voraussetzt.
Es ist aber nicht zu erwarten, dass der deutsche Gesetzgeber zeitnah eine Regelung schafft, in der er die Arbeitgeber gemäß des EuGH-Urteils verpflichtet, ein objektives, verlässliches und zugängliches Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen.
Ob das BAG von seiner früheren Rechtsprechung abrückt und dem Betriebsrat ein Initiativrecht zuerkennt, bleibt abzuwarten. Sollte es in Art. 31 GrCh eine gesetzliche (unionsrechtliche) Regelung sehen, aus der unmittelbar die Pflicht für Arbeitgeber folgt, ein Arbeitszeiterfassungssystem einzuführen? In diesem Fall würde ein Mitbestimmungsrecht und damit auch ein Initiativrecht bereits am Einleitungssatz des § 87 Abs. 1 BetrVG scheitern. Die GrCh gilt nach dem Wortlaut von Art. 51 zwar nur die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der EU sowie die Mitgliedstaaten, jedoch trifft dieser nach dem EuGH keine Regelung darüber, ob Privatpersonen (und damit auch private Arbeitgeber) gegebenenfalls unmittelbar zur Einhaltung einzelner Bestimmungen der Charta verpflichtet sein können (EuGH, 06.11.2018 – C-569/16, C-570/16).
Sollte Art. 31 GrCh nicht unmittelbar wirken und ein Mitbestimmungsrecht sperren, dann sprechen die besseren Argumente für ein Initiativrecht. An dieser Stelle darf nicht verkannt werden: Hätte der Gesetzgeber ein Initiativrecht ausschließen wollen, dann hätte er dazu im Rahmen der letzten Änderung des BetrVG durch das Betriebsrätemodernisierungsgesetz die Gelegenheit gehabt. So hätte er zum Beispiel – wie in Nr. 14 – dem Betriebsrat nur ein Mitbestimmungsrecht zur „Ausgestaltung“ eines Arbeitszeiterfassungssystem einräumen können oder wie in § 95 Abs. 1 BetrVG nur dem Arbeitgeber die Möglichkeit gegeben, die Einigungsstelle anzurufen. Dem war aber nicht so.