Jürgen ist 56 Jahre alt und arbeitet Vollzeit in der Produktion. Normalerweise. Seit einigen Wochen ist er krankgeschrieben. Nun macht Jürgen sich Sorgen um seine Gesundheit – und natürlich auch um seinen Job. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen kann, ist, dass alle im Betrieb mitbekommen, dass Jürgen gesundheitliche Probleme hat. Als er eine Einladung zum BEM-Gespräch erhält, schämt er sich. „Jetzt werde ich offiziell „ge-BEMt" – wie peinlich!" denkt er. Die Vorstellung, alles über sich preisgeben zu müssen und dann womöglich bei der nächsten „Gelegenheit" seinen Job zu verlieren, kränkt ihn schwer.
Der Arbeitgeber bietet ein BEM-Gespräch an. Was tun?
Dabei verbindet Jürgen eine lange Geschichte mit seinem Arbeitgeber. Er ist seit über 30 Jahren für ihn tätig. In den letzten Jahren war er immer öfter krankgeschrieben – und dann auch nicht nur für ein paar Tage, sondern meist für mehrere Wochen. Sein Arbeitgeber hat ihn deswegen schon oft zum Personalgespräch gebeten und gefragt, wieso er denn so oft krank sei. Was für eine Frage! Jürgen ist körperlich einfach nicht mehr so fit wie früher. Mittlerweile hat er auch einen Schwerbehindertenausweis.
Vor einem Jahr wurde Jürgens Lohn herabgestuft. Sein Arbeitgeber begründet diese Entscheidung damit, dass er eben weniger produktiv sei. Und jetzt die Einladung zum BEM-Gespräch. Jürgen muss innerhalb von einer Woche schriftlich zu- oder absagen. Er befürchtet, dass sein Arbeitgeber ihm nun endgültig kündigen will.
Betriebliches Eingliederungsmanagement als Chance und zum Schutz für Arbeitnehmer
Viele Arbeitnehmer haben Angst vor einer Kündigung wegen Krankheit. Eine solche krankheitsbedingte Kündigung kann im Einzelfall gerechtfertigt sein, wenn zu erwarten ist, dass ein Arbeitnehmer krankheitsbedingt seine Arbeitsleistung in Zukunft nicht oder nicht ausreichend erfüllen kann, und es dadurch zu erheblichen Betriebsablaufstörungen oder Lohnfortzahlungskosten kommt.
Um das Arbeitsverhältnis zu sichern, hat der Gesetzgeber im Jahr 2004 das betriebliche Eingliederungsmanagement eingeführt. Danach sind Arbeitgeber verpflichtet, für alle Beschäftigten, die innerhalb der letzten zwölf Monate länger als sechs Wochen (ununterbrochen oder wiederholt) arbeitsunfähig waren, ein BEM-Verfahren durchzuführen. Das heißt, der Arbeitgeber muss einen erkrankten Beschäftigten gezielt unterstützen, um sein Ausscheiden aus dem Betrieb zu verhindern. Ziel des BEM-Verfahrens ist es, herauszufinden, wie Beschäftigte trotz gesundheitlicher Einschränkung weiterhin im Unternehmen arbeiten können. BEM soll das Beschäftigungsverhältnis stabilisieren und sichern. Betroffenen wird auf diese Art geholfen, ihren Lebensstandard zu erhalten.
BEM: Wie funktioniert das betriebliche Eingliederungsmanagement?
Was ist die stufenweise Wiedereingliederung?
Offenbarung von sensiblen Daten?
Jürgen erfährt: Für den Erfolg seines BEM-Verfahrens können auch sensible Daten zu seiner Gesundheit und seiner Person wichtig sein. Der Schutz dieser Daten ist für den gesamten Prozess gewährleistet. Er muss sich also keine Sorgen machen, dass ein Kollege demnächst Witze über Jürgens Blutzuckerspiegel reißt. Welche Daten erfragt werden können, erfährt Jürgen bereits vor seiner Zustimmung. Es wird empfohlen, sensible Daten nur dann und nur so weit zu offenbaren, wie sie für die Sachverhaltsermittlung im Verfahren von Bedeutung sind.
Beim betrieblichen Eingliederungsmanagement geht es um die Suche nach geeigneten betrieblichen Maßnahmen, nicht um die richtige medizinische Behandlung. Geprüft wird also, wie Jürgens Arbeitsplatz angepasst werden kann, ob er technische Hilfsmittel benötigt, ob seine Arbeitszeit anders verteilt werden kann oder ob es einen anderen geeigneten Arbeitsplatz für ihn gibt.
Nutzen für den Arbeitgeber
Indem Arbeitskräfte im Unternehmen gehalten werden, hat BEM so auch einen großen Nutzen für den Arbeitgeber. Durch eine frühzeitige Intervention reduzieren sich krankheitsbedingte Fehltage sowie damit verbundene Lohnfortzahlungskosten. Und Jürgens Wissen und seine Erfahrungen aus 30 Jahren im Betrieb bleiben dem Unternehmen erhalten.
Ein betriebliches Eingliederungsmanagement ist freiwillig. Darum sind BEM-Gespräche nicht mit den sogenannten Krankenrückkehrgesprächen zu verwechseln. Letztere sind eher als Ordnungsmaßnahmen zu qualifizieren. Im Unterschied dazu ist die Teilnahme an BEM-Gesprächen nicht zwingend. Ohne Einwilligung des Betroffenen wird kein BEM durchgeführt.
Die Kontrolle liegt beim Betroffenen
Für Jürgen bedeutet das: Alles, was an Hilfemaßnahmen erfolgen soll, erfordert seine Zustimmung. Er hat auch die Kontrolle darüber, ob weitere Verfahrensschritte eingeleitet werden oder ob weitere Personen zu seinem BEM hinzugezogen werden. Ein betriebliches Eingliederungsmanagement setzt also auf Dialog und Konsens.
Jeder BEM-Fall ist anders. Jeder Arbeitsplatz, jeder Mensch und jede Erkrankung bringen ganz eigene Anforderungen mit sich. Darum gibt es kein BEM als fertiges „Schema F". Es ist ein immer wieder neues, individuelles Verfahren, das genauso viele Prozessschritte umfasst, wie sie eben erforderlich sind, um im Einzelfall die Ziele zu erreichen. Manchmal reichen wenige Akteure aus, ein andermal ist der Prozess aufwändiger und erfordert die Hinzuziehung mehrerer betrieblicher und außerbetrieblicher Unterstützer.
Wichtige Personen im BEM-Verfahren
Jürgens Arbeitgeber ist verpflichtet, eine erste Kontaktaufnahme mit seinem Arbeitnehmer herzustellen. Er bleibt für den gesamten Ablauf des BEM-Prozesses verantwortlich, auch falls er innerbetrieblich eine andere Person mit der Durchführung der weiteren Verfahrensschritte oder der Umsetzung von Maßnahmen beauftragt. Diese andere Person kann zum Beispiel ein BEM-Beauftragter sein, ein BEM-Team, der Betriebsarzt oder die Schwerbehindertenvertretung.
Für Jürgen als Beschäftigten besteht keine Mitwirkungspflicht – das gesamte Verfahren ist freiwillig. Doch wenn Jürgen mit dem BEM-Verfahren einverstanden ist, sollte er auch aktiv mitwirken. Dabei muss er nicht seine krankheitsbedingte Diagnose offenlegen, aber er sollte zum Beispiel Auskunft über seine besonderen Belastungen am Arbeitsplatz geben. Gibt es betriebliche Ursachen für seine häufige Arbeitsunfähigkeit? So kann Jürgen selber mithelfen, die Auswirkungen betrieblicher Belastungen auf seine Gesundheit aufzuklären.
Rolle der Interessenvertreter
Auch die Schwerbehindertenvertretung (bei schwerbehinderten und gleichgestellten Betroffenen) sowie der Betriebs- oder Personalrat sind am BEM-Verfahren beteiligt. Sie dürfen die Einleitung eines BEM beim Arbeitgeber anstoßen (§ 167 Abs 2 SGB IX – und weiter dazu § 95 Abs. 1 Satz 2 SGB IX für die Schwerbehindertenvertretung, § 80 Abs. 1 Nr. 1, 2, 4, 6, 8 und 9 BetrVG für Betriebsräte und die §§ 68 Abs. 1 Nr. 1, 3 und 4 BPersVG, 64 Nr. 1, 4–6 LPVG NW für Personalräte). Die Beschäftigtenvertretungen unterstützen den BEM-Prozess, bringen eigene Vorschläge ein und fördern das Verfahren durch die Unterstützung des Betroffenen. So muss Jürgen keine Angst haben, nun auf der „Anklagebank" vor seinem Arbeitgeber zu sitzen und sich allein rechtfertigen zu müssen. Die SBV bzw. der Betriebsrat stehen auf seiner Seite und vermitteln, falls es nötig ist.
Die Schwerbehindertenvertretung, aber auch ein Betriebs- oder Personalratsmitglied kann grundsätzlich Teilaufgaben des BEM-Prozesses im Einvernehmen mit dem Arbeitgeber übernehmen. Da aber die Zustimmung des betroffenen Arbeitnehmers im gesamten Verfahren gegeben sein muss, kann Jürgen selbst entscheiden, ob der Betriebsrat oder die Schwerbehindertenvertretung überhaupt an seinem BEM beteiligt werden soll.
Bildung eines BEM-Teams
Im Betrieb oder in der Dienststelle kann ein BEM-Team gebildet werden, das beispielsweise aus der Schwerbehindertenvertretung, einem Betriebs- und Personalratsmitglied sowie weiteren innerbetrieblichen Akteuren wie dem Betriebsarzt und der Arbeitssicherheitsfachkraft bestehen kann. Diesem BEM- oder auch Integrationsteam kann der Arbeitgeber, nachdem er den Erstkontakt zu dem betroffenen Beschäftigten hergestellt und dessen Zustimmung zum BEM-Verfahren eingeholt hat, die weitere Durchführung des BEM-Prozesses im Betrieb beziehungsweise in der Dienststelle übertragen.
Für die Beschäftigtenvertretungen haben BEM-Verfahren den Vorteil, dass sie so einen systematischen Ansatz für die betriebliche Gesundheitsförderung im Interesse der Beschäftigten etablieren. Die Gesundheitsgefährdungspotenziale werden ausgewertet, „krankmachende" innerbetriebliche Faktoren (einschließlich des Führungsverhaltens von Vorgesetzten) werden erkannt. So können die SBV, der Betriebs- oder Personalrat Initiativen zu Gesundheitsförderung im Betrieb und Verbesserungen der Arbeitsbedingungen einleiten – und zwar schon bevor ein Arbeitnehmer erkrankt. Damit kommen Sie auch ihrem Auftrag nach: Für Betriebsräte sind diese Aufgaben in §§ 89 und 92a BetrVG zur Verbesserung der Beschäftigungssituation und nach § 90 Abs. 2 BetrVG zur menschengerechten Gestaltung der Arbeitsbedingungen geregelt. Die Aufgaben der Personalräte sind entsprechend in § 75 Abs. 3 Nr. 11 und 16 BPersVG beziehungsweise § 72 Abs. 3 Nr. 5 und Abs. 4 Nr. 7 und 10 LPVG NW geregelt.
Weitere mögliche Akteure im betrieblichen Eingliederungsmanagement
In Klein- oder Mittelbetrieben ist häufig der Betriebsarzt Teil des BEM-Teams. Dort fehlt häufig eine Beschäftigtenvertretung und es gibt (bisher) auch noch keine Integrationsteams. Dann ist es für den Arbeitgeber eine gute Lösung, den Betriebsarzt mit der Durchführung von BEM-Verfahren zu beauftragen.
Auch weitere externe Partner können in den BEM-Prozess einbezogen werden. Als mögliche externe Beteiligte nennt § 167 Abs. 2 SGB IX die Rehabilitationsträger (also beispielsweise die Krankenkasse, die Rentenversicherung, die Agentur für Arbeit oder die Unfallversicherung). Für schwerbehinderte Arbeitnehmer kommen auch die Integrationsämter als Ansprechpartner für Rehabilitationsleistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und für Leistungen zur begleitenden Hilfe im Arbeitsleben in Frage. Diese externen Beteiligten sollen ihre Leistungen zur Erhaltung der Erwerbsfähigkeit, zur ergonomischen Arbeitsplatzgestaltung, zur beruflichen Qualifizierung und zur Gewährleistung des Unfallschutzes und der Arbeitssicherheit in den BEM-Prozess einbringen. Ihre Einbeziehung empfiehlt sich erst dann, wenn die Sachverhaltsermittlung während des jeweiligen BEM-Verfahrens nahelegt, dass Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben beziehungsweise zur begleitenden Hilfe im Arbeitsleben sinnvoll erscheinen.