„Für die nächsten Monate gibt es keine Anzeichen einer deutlichen Erholung bei der Beschaffung wichtiger Werkstoffe“, dämpft Dr. Klaus Wohlrabe vom ifo-Institut die Erwartungen. In einer aktuellen Umfrage des Instituts bestätigen 73,3 Prozent der Unternehmen einen Engpass bei Materialien oder Vorprodukten. Das ist zwar der niedrigste Wert seit Februar, aber eine Entspannung ist noch lange nicht in Sicht. Immerhin sind es fast drei Viertel der deutschen Industriebetriebe, die vom Materialmangel betroffen sind.
Autobranche, Elektroindustrie und Maschinenbau besonders betroffen
Noch weitaus düsterer sieht es in den sogenannten Kernindustrien der Bundesrepublik aus. Aus der Automobilbranche, der Elektroindustrie und dem Maschinenbau melden rund 90 Prozente einen Mangel an Materialien und Vorprodukten. Dazu sagt das ifo: „Neben der grundsätzlichen Knappheit bei elektronischen Komponenten tragen weiterhin auch Probleme in der weltweiten Logistik, insbesondere im Schiffsverkehr, zu den Beschaffungsproblemen bei.“
Aber nicht nur in den Kernbranchen bleibt die Lage kritisch, auch beispielsweise bei den Getränkeherstellern hat sich die Situation deutlich verschlechtert. Hier waren im Juli 70,5 Prozent der Unternehmen betroffen, was einen deutlichen Anstieg von rund 23 Prozent zum Vormonat bedeutet. Ein ähnliches Schicksal teilt die Baubranche. So sollen derzeit ungewöhnlich viele Projekte storniert werden – 11,5 Prozent betrug der Anteil der betroffenen Unternehmen beim Hochbau im Juni, 9,0 Prozent waren es im Tiefbau. Zwar seien die Auftragsbücher weiter gefüllt, aber es fehlt häufig am Material. Ein wenig durchschnaufen kann indes die Bekleidungsindustrie: Während im Juni noch 81,7 Prozent über Engpässe klagten, sind es derzeit „nur noch“ 64,1 Prozent. Übrigens vermeldete die Metallerzeugung und -bearbeitung mit 30,5 Prozent den geringsten Anteil an Unternehmen, die unter Lieferengpässen leiden.
Zukunftsängste bei den Arbeitnehmern
Fehlt es an Material oder Vorprodukten, steht nicht selten das Fließband still, die Maschine läuft weniger oder Produkte können schlicht nicht versendet werden. Im Umkehrschluss bedeutet das für viele Arbeitnehmer auch, dass ihre Arbeitsleistung nicht in vollem Umfang benötigt wird. Häufige Konsequenz? Kurzarbeit, schließlich hat sich das Instrument während der Corona-Pandemie bewährt. Erst kürzlich hat beispielsweise Mercedes-Benz einen Teil seiner Mitarbeiter im Werk in Rastatt in Kurzarbeit geschickt. Schuld daran sind Einschränkungen in der Produktion wegen eines Lieferengpasses bei bestimmten Halbleiterkomponenten. Auch Audi hat die Kurzarbeit vorsorglich bis Ende September verlängert. Die Versorgung mit Bauteilen an den Standorten Neckarsulm und Ingolstadt sei weiter angespannt. All die Unsicherheiten – insbesondere was den eigenen Arbeitsplatz angeht – drücken aufs Gemüt, weswegen die Deutschen so pessimistisch in die Zukunft blicken wie noch nie. Laut Forsa-Umfrage gehen 80 Prozent davon aus, dass sich die wirtschaftliche Lage verschlechtern wird. Das ist der schlechteste jemals von Forsa gemessene Wert (seit 1991).
Sicherung der Arbeitsplätze im Fokus
Spätestens jetzt ist also die Zeit für den Betriebsrat gekommen, sich einzuschalten und für die Sicherung der Arbeitsplätze einzusetzen. Der Siemens-Gesamtbetriebsrat etwa hat erst kürzlich vom Münchner Konzern vermehrte Investitionen in die heimische Produktion und mindestens ein Beibehalten der Personenzahl in Deutschland gefordert. „Tausende Stellenausschreibungen von Siemens“ gebe es laut Gesamtbetriebsratsvorsitzende Birgit Steinborn im Moment. Eine zumindest auf den ersten Blick erfreuliche Entwicklung.
Auch für die Wirtschaftsausschüsse der Unternehmen, die an Materialmangel leiden, ist es derzeit eine arbeitsreiche Zeit – sollte es zumindest sein. Denn dieser kann in Sachen wirtschaftliche Angelegenheiten ein gewichtiges Wort mitreden. Unter anderem bei der Erschließung neuer Märkte oder der Beschaffung alternativen Materials.
Stimmung in der Wirtschaft sinkt deutlich
Alle hoffen auf eine Verbesserung der Stimmung in Deutschland. Denn der Geschäftsklimaindex ist nach ifo-Angaben im Juli auf den niedrigsten Wert seit Juni 2020 gefallen. Bedeutet: Die Unternehmen erwarten in den kommenden Monaten schlechtere Geschäfte und sind darüber hinaus weniger zufrieden mit ihrer aktuellen Geschäftslage – und das über sämtlich Branchen hinweg. Grund hierfür sind neben dem Materialmangel die hohen Energiepreis und drohende Gasknappheit, das belastet die Konjunktur. Deutschland steht laut ifo an der Schwelle zur Rezession. (tis)