Firmen und Unternehmen betrachten die Digitalisierung als eine wirkmächtige Technologie, die ihnen vielversprechende Innovationspotentiale und Produktivitätsgewinne verheißt. Und sehen das sicherlich richtig. Sehen aber auch manches nicht. Was einem machbarkeits- und optimierungsbeseelten Blick auf KI&Co verborgen bleibt, sind Sinn und Werte, die über den betriebswirtschaftlichen Nutzen hinausgehen.
Vorsicht vor mangelnder Akzeptanz der Mitarbeiter
Dieser blinde Fleck bedeutet nicht nur eine Verkennung des Digitalisierungsphänomens, sondern übersieht auch Gefahren für das Unternehmen selbst. Denn jede Digitalisierungsstrategie kann an mangelnder Akzeptanz der Mitarbeiter scheitern, deren Arbeitsalltag durch mehr und andere Werte als reine Effizienz bestimmt wird. KI und digitale Anwendungen sind aber für alle Wert-voll, wenn man in einem umfassenden Sinne vernünftig zu Werke geht.
„Großartige Chancen“?
Als Beispiel für eine einseitig effizienzbasierte Perspektive auf unternehmerische Digitalisierungsprozesse sei die Ausgabe des Harvard Business Managers vom Mai 2023 genannt. Erschienen also einen guten Monat, nachdem das Future of Life Institute ein Moratorium für die KI-Entwicklung forderte, um deren potentielle Risiken durch Entwicklungskorrekturen hin zu mehr Sicherheit und Transparenz zu minimieren (vgl. https://futureoflife.org/open-letter/pause-giant-ai-experiments/).
Von diesem umsichtigen Blick auf die digitale Zukunft ist auf den Seiten des Magazin-Specials zu der Frage „Wie Künstliche Intelligenz die Arbeitswelt verändert“ wenig zu erkennen. Der Standpunkt von Firmen und Unternehmen zeichnet sich durch einen freudig erregten Blick auf die Segnungen der künstlichen Maschinen-Intelligenz in der Arbeitswelt aus. Hier wird eher vor den Warnungen gewarnt und im Namen „großartiger Chancen“ die Strategie verfolgt, „die gängigsten Argumente von Skeptikern zu entkräften“ (vgl. HBM, Mai 2023, Seite 19).
Mit zuvor unvorstellbarer Geschwindigkeit und Präzision könnten Unmengen von Bestellungen gleichzeitig bearbeitet werden, heißt es; Mitarbeiter seien lediglich für die Steuerung der digitalen Maschinen notwendig. Die Zusammenarbeit von Mensch und Maschine sei überdies längst Gegenwart und ein entscheidender Wettbewerbsvorteil hochinnovativer Unternehmen. Produktionsabläufe ließen sich schneller und mit weniger Personalaufwand bewerkstelligen, Qualität würde effizienter gesichert und Abrechnungen automatisiert erstellt. Probleme werden wenn, dann nur in Gestalt von Implementierungskomplikationen und Datenfluss-Barrieren thematisiert. Hier sei auf die richtige Auswahl KI-fähiger Projekte zu achten und der systemische Komplexitätsanstieg im Unternehmen durch effizienzsteigernde KI-Anwendungen zu bedenken. Bebildert ist die Artikelfolge zudem ausnahmslos durch beeindruckende Erzeugnisse von KI-Kunst a la Midjourney&Co.
Ganzheitlichere Perspektive auf Künstliche Intelligenz
Nun ist gegen einen KI-beseelten optimistischen Blick in die ökonomische Zukunft nichts einzuwenden und dessen effizienzsteigernde Potentiale unbestritten. Die Wirtschaft macht es sich dabei allerdings auf der frohlockenden Seite des Digitalisierungs-Diskurses bequem, der wesentlich durch bedachtere Sichtweisen und vor allem digitalethische Aspekte mitbestimmt wird.
Um Unternehmen tatsächlich erfolgreich durchdigitalisieren zu können, empfiehlt sich eine ganzheitlichere Perspektive auf Künstliche Intelligenz.
Um Unternehmen tatsächlich erfolgreich durchdigitalisieren zu können, empfiehlt sich eine ganzheitlichere Perspektive auf Künstliche Intelligenz. Denn entgegen der machbarkeitsorientierten Sichtweise mancher Manager sorgen sich umsichtigere Charaktere bei flächendeckender KI-Anwendung in Unternehmen um ihre Privatsphäre, wenn nicht nur die Arbeitszeiten der Mitarbeiter transparent erfasst und abgerechnet, sondern diese selbst klandestin überwacht werden können (hier etwa ein Beitrag, der vor gar existentiellen Risiken der KI warnt: https://time.com/6273743/thinking-that-could-doom-us-with-ai/). Oder die alte analoge Intelligenz befürchtet, der neuen digitalen weichen zu müssen, da ChatGPT Texte für den Alltagsgebrauch schneller und kostensparender in die Magazine und damit JournalistInnen vor die Tür setzen läßt.
Gebrauch der Vernunft
Um zu verdeutlichen, warum man mit dieser einseitig fortschrittsgläubigen Sichtweise weder dem Phänomen der Digitalisierung noch einer erfolgreichen unternehmerischen Digitalisierungsstrategie gerecht wird, hilft ein Ausflug in die Philosophie.
Wenn man handelt, unternehmerisch oder anders, bietet sich der Gebrauch der Vernunft an. Nun kann zwischen zwei Arten der Vernunft unterschieden werden, instrumentell und praktisch. Diese beiden Arten, über etwas nachzudenken oder Handlungen zu begründen, haben wesentlich mit den Begriffen Mittel und Zweck zu tun. Instrumentelle Vernunft, zum Beispiel nach Horkheimer (Zur Kritik der instrumentellen Vernunft), befähigt dazu, gesetzte Zwecke mit den angemessenen und geeigneten Mitteln zu erreichen. Praktische Vernunft, zum Beispiel nach Kant (Kritik der praktischen Vernunft), beschäftigt sich hingegen mit dem Setzen der Zwecke, die dann durch die Mittel unter Mithilfe der instrumentellen Vernunft verwirklicht werden sollen.
Wenn digitaleuphorisierte Manager das Ziel haben, ihrem Unternehmen durch KI möglichst schnell Produktivitätssteigerungen zu bescheren, verwenden sie ihre instrumentelle Vernunft. Die praktische Vernunft hingegen würde fragen, ob es im Zusammenhang mit digitalen Anwendungen noch andere Ziele zu berücksichtigen gibt. Instrumentelle Vernunft sagt, was man tun kann; praktische Vernunft, was man tun soll. Letztere hat also wesentlich mit moralischen Werten zu tun, welche die Setzung von Zwecken und Zielen bestimmen.
Vor diesem philosophischen Hintergrund wird deutlich, wessen Geistes Kind das unternehmerische Handeln in digitalen Zeiten mitunter zu sein scheint. Wenn von großartigen Chancen der KI geschwärmt wird, dann ist die instrumentelle Vernunft am Werk und betrachtet die KI als geeignetes Mittel, um unternehmerische Zwecke wie Effizienz- und Gewinnmaximierung zu verwirklichen. Die praktische Vernunft würde sich darüber hinaus den Zweck des guten Arbeitens setzen und fragen, ob KI diesen nicht durch Arbeitsverdichtung konterkariert. In dieser Weise vernünftig denken die Autoren des HBM-Specials aber selten. Als Beispiel einer wertevergessenen Sichtweise auf Digitalisierung wird im Artikel „Ziemlich beste Freunde“ unter anderem die „Demokratisierung von Daten“ als Voraussetzung für eine solide und operationalisierbare Datenbasis im Unternehmen empfohlen (HBM Mai 2023, S.24). Unter Demokratisierung wiederum wird die Möglichkeit verstanden, „mehr Menschen mehr Daten an die Hand“ zu geben, und letztere „kurzfristig zugänglich und leicht nutzbar“ zu machen (HBM Mai 2023, S.29/30.). Das ist instrumentelle Vernunft, wie sie im Buche steht.
Was also die instrumentelle Vernunft von der praktischen unterscheidet, ist das Denken in und mit Werten.
Sicherlich sind frei und schnell zugängliche Daten ein probates Mittel zum Zwecke der optimalen Datennutzung. Doch Letzteres als Demokratisierung zu bezeichnen, spricht dem Begriff Hohn, weil an ihm die praktische Vernunft und also moralische Prinzipien wie Freiheit, Gleichheit und Mitbestimmung ignoriert werden, ohne die man von Demokratie nicht sprechen kann. Und das sollte in kleinem Maßstab auch für Unternehmen gelten.
Digitalethik in den Mittelpunkt rücken
Was also die instrumentelle Vernunft von der praktischen unterscheidet, ist das Denken in und mit Werten. Womit man bei einem weiteren wesentlichen Aspekt der Digitalisierungsdebatte ist, den das digitalisierungswillige Unternehmertum bisher unberücksichtigt zu lassen scheint: Digitalethik. Denn durch die Achtung von Werten bei der Begründung von Handlungen erzielt die Digitalethik das, was in ihrem Namen eingeschrieben ist: das gute digitale Leben und Arbeiten. Praktisch vernünftiges unternehmerisches Handeln bedeutet dann nicht nur, die adäquaten Mittel für rein betriebswirtschaftliche Zwecke anzuwenden, sondern letztere mit Werten wie Autonomie, Menschlichkeit, Privatheit, Transparenz, Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit, Verantwortung ins Verhältnis zu setzen. Für das oben genannte Demokratisierungs-Beispiel bedeutet eine digitalethische Haltung, Demokratisierung von Daten nicht nur moralisch verkümmert als breite Datenzugänglichkeit zu verstehen, sondern Werte wie Datenschutz, Privatheit und Transparenz zu berücksichtigen.
Denn durch die Achtung von Werten holt man auch die betriebsinternen Bedenkenträger an Bord.
Digitalethik ist nicht nur eine Kopfgeburt von Philosophen, die sich zu viel mit Computern beschäftigt haben, sondern trägt im Gegensatz zu einem einseitig machbarkeitsbeseelten Blick auf KI zu einer tatsächlich erfolgreichen Digitalisierung von Unternehmen bei. Denn durch die Achtung von Werten holt man auch die betriebsinternen Bedenkenträger an Bord. In jeder Firma werden sich Mitarbeiter finden, welche die euphorische Sicht ihrer Vorgesetzten bei der Implementierung von KI nicht teilen. Und das meist aus guten Gründen, beziehungsweise Werten. Diese Menschen sind keine eingebildeten Skeptiker, sondern sorgen sich zurecht um die tatsächliche Verletzung von Privatheit, menschlicher Nähe, Solidarität, gesundem Arbeiten, Erhaltung des Arbeitsplatzes oder Mit- und Selbstbestimmung.
Fazit:
Durch eine die technische Implementierung von KI flankierende digitalethische Perspektive werden die Mitarbeiter in einem wertebasierten unternehmensinternen Diskurs zu ernstgenommenen und ernstmeinenden Teilhabenden. Dadurch verringern sich widerständige Impulse, steigt die Akzeptanz und gelingt gutes digitales Arbeiten.
Unternehmen profitieren also tatsächlich von der Digitalisierung: Mit Vernunft, mit Werten.