Bei Gewalt gegenüber Vorgesetzten bedarf es vor einer Kündigung keiner Abmahnung

„Hau ab hier” – diesen Ausspruch sollte man sich lieber sparen, wenn man mit einem Vorgesetzten spricht. Stößt man ihn auch noch weg und tritt nach ihm, kennt das Landesarbeitsgericht Niedersachen kein Pardon mehr:  Dieses Verhalten rechtfertigt eine außerordentliche Kündigung, auch ohne vorherige Abmahnung.

Landesarbeitsgericht Niedersachsen, Urteil vom 25.08.2025, 15 SLa 315/25

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Redaktion
Stand:  14.10.2025
Lesezeit:  03:00 min
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Das ist passiert

Der Arbeitnehmer, der als Be- und Entlader beschäftigt ist, streitet mit der Arbeitgeberin im Wesentlichen über die Wirksamkeit einer außerordentlichen Kündigung. 
Der Gruppenleiter E., der nicht der direkte Vorgesetzte des Arbeitnehmers war, sah den Arbeitnehmer vor einer Ausladeluke mit seinem privaten Smartphone in der Hand. Die Nutzung privater Smartphones während der Arbeitszeit ist den Mitarbeitern untersagt. Nachdem der Gruppenleiter E. sich dem Arbeitnehmer genähert hatte, sagte dieser: „Hau ab hier!“ stieß ihn mit der rechten Hand gegen die linke Schulter und trat mit dem rechten Fuß in dessen Richtung, wobei er ihn berührte. Danach äußerte der Arbeitnehmer etwas gegenüber dem Gruppenleiter E. und vollführte eine Geste mit erhobenem rechtem Zeigefinger. Nachdem der Gruppenleiter E. den Arbeitsbereich des Arbeitnehmers verlassen hatte, befasste dieser sich erneut mit seinem Smartphone. Von dem Vorfall existieren Videoaufnahmen.

Die Arbeitgeberin kündigte das Arbeitsverhältnis außerordentlich fristlos, hilfsweise fristgerecht. Dagegen wehrte sich der Arbeitnehmer mit seiner Klage vor dem Arbeitsgericht Hannover.
Im Wesentlichen behauptete der Arbeitnehmer, der Gruppenleiter E. habe schon in der Vergangenheit seine persönlichen Grenzen überschritten und sei ihm zu nah gekommen. Am Vorfallstag habe er sich ohne Vorwarnung an seine Schulter gelegt und auf sein Smartphone gesehen. Er habe sich erschreckt, den Gruppenleiter E.  zur Seite geschoben und einen leichten Tritt ohne Verletzungsabsicht angedeutet. Es habe sich nicht um eine absichtliche Handlung gehandelt. Er habe im Anschluss versucht, sich zu entschuldigen, hierzu sei ihm aber keine Gelegenheit gegeben worden.
Das Arbeitsgericht Hannover hielt die außerordentliche Kündigung letztendlich für unwirksam. Die Arbeitgeberin legte Berufung ein. Die Berufungskammer hat Beweis erhoben durch Inaugenscheinnahme der Videoaufzeichnungen.

Das entschied das Gericht

Die außerordentliche Kündigung des Arbeitnehmers ist wirksam, so das Gericht.
Für die Kündigung bestehe ein wichtiger Grund gemäß § 626 BGB, denn es lägen Tatsachen vor, aufgrund derer der Arbeitgeberin unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses bis zum Ablauf der Kündigungsfrist nicht zugemutet werden könne.
Solche Tatsachen seien in dem Verhalten des Arbeitnehmers gegenüber dem Gruppenleiter E. zu sehen. Der Arbeitnehmer habe eine Tätlichkeit gegenüber dem Gruppenleiter E. begangen. Dies stelle einen erheblichen Verstoß gegen die ihm gegenüber der Arbeitgeberin obliegende Pflicht zur Rücksichtnahme auf deren Interessen (§ 241 Abs. 2 BGB) dar und sei „an sich“ geeignet, einen wichtigen Grund für eine fristlose Kündigung zu bilden.
Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme (Inaugenscheinnahme der Videoaufzeichnungen) stehe zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Arbeitnehmer den Gruppenleiter E. gegen die Schulter gestoßen und nach ihm getreten hat, ohne von diesem dazu provoziert worden zu sein. Dies sei im Grundsatz vom Arbeitnehmer nicht bestritten und auf den Videoaufnahmen klar zu erkennen. Zwar habe der Arbeitnehmer auf die Annäherung des Gruppenleiters E. reagiert, nach dem Inhalt der Videoaufnahme sei aber nicht zu erkennen, dass sich der Gruppenleiter dem Arbeitnehmer so weit genähert hätte, dass es vom Arbeitnehmer angemessen wäre, sich durch den Stoß Raum zu verschaffen. Die Videoaufnahme zeige keinen Körperkontakt des Gruppenleiters mit dem Arbeitnehmer vor der Handlung des Arbeitnehmers. Auf den Vortrag des Arbeitnehmers, der Gruppenleiter habe sich in der Vergangenheit unangemessen ihm gegenüber verhalten, komme es in diesem Zusammenhang nicht an. In der konkreten Situation, die Gegenstand der Videoaufzeichnungen sei, sei ein Fehlverhalten des Gruppenleiters nicht zu erkennen. Es möge sein, dass es unangemessen ist, auf das private Smartphone eines anderen zu schauen. Es sei aber nicht zu erkennen, dass der Gruppenleiter versucht habe, die vom Arbeitnehmer angesehenen Inhalte auf dem Smartphone zu sehen. 
Das Gericht gehe nicht davon aus, dass der Arbeitnehmer dem Gruppenleiter durch den Stoß und den Tritt erhebliche Schmerzen zugefügt habe. Es sei jedoch zu erkennen, dass der Zeuge infolge des Stoßes einen Schritt zur Seite macht. Daraus sei zu schließen, dass der Stoß mit nicht unerheblicher Kraft ausgeführt worden ist. Durch den Tritt des Arbeitnehmers allerdings sei es allenfalls zu einer leichten Berührung gekommen. 

Im Gesamtzusammenhang sei die Situation zu berücksichtigen, in der es zu der Tätlichkeit gekommen ist. Der Gruppenleiter E. habe den Arbeitnehmer bei einem Fehlverhalten angetroffen. Der Arbeitnehmer hätte nicht bestritten, dass er während der Arbeitszeit sein privates Smartphone genutzt habe. Er hätte ebenfalls nicht bestritten, dass diese Nutzung untersagt gewesen sei. Er habe lediglich vorgetragen, er sei sich des Verbots nicht gewahr gewesen. Insoweit war der Gruppenleiter E. berechtigt, den Arbeitnehmer wegen seines Fehlverhaltens zur Rede zu stellen. Dass der Gruppenleiter E. nicht der direkte Vorgesetzte des Arbeitnehmers gewesen ist, sei in diesem Zusammenhang irrelevant, da er jedenfalls auf einer höheren Hierarchiestufe als der Arbeitnehmer stehe. Bei dem Verhalten des Arbeitnehmers gegenüber dem Gruppenleiter E. handle es sich um eine schwerwiegende Pflichtverletzung, die grundsätzlich geeignet sei, eine außerordentliche Kündigung des Arbeitsverhältnisses zu rechtfertigen.

Auch eine umfassende Interessenabwägung durch das Gericht führte vorliegend zu keinem anderen Ergebnis. 
Insbesondere erklärte das Gericht, dass die Kündigung nicht unverhältnismäßig sei, weil dem Arbeitnehmer zunächst als milderes Mittel eine Abmahnung hätte ausgesprochen werden müssen. Die Abmahnung sei vielmehr entbehrlich gewesen.
Der tätliche Angriff auf einen Arbeitskollegen sei eine schwerwiegende Verletzung der arbeitsvertraglichen Nebenpflichten. Der Arbeitgeber sei nicht nur allen Arbeitnehmern gegenüber verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass sie keinen Tätlichkeiten ausgesetzt sind, sondern hat auch ein eigenes Interesse daran, dass die betriebliche Zusammenarbeit nicht durch tätliche Auseinandersetzungen beeinträchtigt wird und nicht durch Verletzungen Arbeitskräfte ausfallen. Der Arbeitgeber dürfe auch berücksichtigen, wie es sich auf das Verhalten der übrigen Arbeitnehmer auswirken würde, würde er von einer Kündigung absehen.

Bei Tätlichkeiten unter Arbeitskollegen bedürfe es vor Ausspruch einer Kündigung regelmäßig keiner Abmahnung. Denn der Arbeitnehmer wüsste von vornherein, dass der Arbeitgeber ein derartiges Fehlverhalten missbilligt. Dies gelte uneingeschränkt bei schweren Tätlichkeiten. Schon ein einmaliger Vorfall könne einen wichtigen Grund zur Kündigung darstellen, ohne dass der Arbeitgeber noch eine Wiederholungsgefahr begründen und den Arbeitnehmer zuvor abmahnen müsste. 
Zwar handle es sich im Hinblick auf die vom Arbeitnehmer angewandte Gewalt nicht um eine schwere Tätlichkeit. Die Pflichtverletzung habe aber aus den angeführten Gründen ein erhebliches Gewicht. Der Arbeitnehmer hätte nicht davon ausgehen können, dass die Arbeitgeberin es akzeptiert, wenn er Vorgesetzte, die einen Pflichtverstoß feststellen in der geschehenen Weise anspricht und ihnen gegenüber tätlich wird. Besonders ins Gewicht falle hierbei, dass der Arbeitnehmer nach der Tätlichkeit sein pflichtwidriges Verhalten unbeeindruckt fortgesetzt habe.

Praxishinweis

Eine verhaltensbedingte Kündigung ist nicht verhältnismäßig und ungerechtfertigt, wenn es mildere Mittel gibt, eine Vertragsstörung für die Zukunft zu verhindern. An dieser Stelle kommt die Abmahnung ist Spiel. Sie ist als „milderes Mittel“ Wirksamkeitsvoraussetzung für diese Art der Kündigung. Allerdings braucht es dann keine Abmahnung, wenn entweder sofort erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung in Zukunft auch nach einer Abmahnung nicht zu erwarten steht, oder es sich um eine so schwere Pflichtverletzung handelt, dass selbst deren erstmalige Hinnahme dem Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und damit offensichtlich – auch für den Arbeitnehmer erkennbar – ausgeschlossen ist. Zweiteres ist vorliegend der Fall. So weit ist die Entscheidung auch nachvollziehbar. Was für mich allerdings nicht zu verstehen ist, ist die versuchte Rechtfertigung des Arbeitnehmers. Eigentlich hätte er wissen müssen, dass sein Verhalten auf einer Videoaufnahme zu sehen ist. Um eine heimliche Videoüberwachung kann es sich vorliegend nicht gehandelt haben, da es sonst in der Entscheidung angesprochen worden wäre. (sf)