Krankheitsbedingte Kündigung im Fokus des EuGH - Folgen für deutsche Arbeitsverhältnisse?

Der Gerichtshof der Europäischen Union hat mit Urteil vom 11.09.2025 entschieden, dass pauschale Regelungen zur Arbeitsplatzsicherung im Krankheitsfall nicht automatisch als „angemessene Vorkehrung“ für Menschen mit Behinderung gelten. Entscheidend ist vielmehr, ob im Einzelfall konkrete Maßnahmen getroffen wurden, um Nachteile auszugleichen. Was bedeutet diese Entscheidung für das deutsche Arbeitsrecht?

EuGH, Urteil vom 11.09.2025, C-5/24

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Redaktion
Stand:  21.10.2025
Lesezeit:  01:30 min
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Das ist passiert

Eine Arbeitnehmerin, die in Italien bei einem Gastronomiebetrieb angestellt war, wurde nach 180 Tagen krankheitsbedingter Abwesenheit entlassen. Die Grundlage für die Kündigung fand sich im einschlägigen italienischen Tarifvertrag (Art. 173 CCNL). Danach beträgt die Höchstdauer für eine Weiterbeschäftigung bei Fehlzeiten aufgrund von Krankheit 180 Tage pro Kalenderjahr. Zwar hatte die Arbeitnehmerin bereits während ihrer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit die behördliche Anerkennung ihrer Behinderung beantragt, hatte ihren Arbeitgeber aber nicht davon informiert. Erst nach der Kündigung erlangte die Arbeitnehmerin den Status einer behinderten Person. Mit ihrer Klage vor dem Tribunale ordinario di Ravenna in Italien machte die Arbeitnehmerin geltend, dass ihre Entlassung diskriminierend und klagte unter anderem auf Wiedereinstellung und Entschädigung. Art. 173 CCNL, der eine Höchstdauer der Weiterbeschäftigung vorsehe, berücksichtige nämlich nicht die Behinderung des Arbeitnehmers. Das vorlegende italienische Gericht rief daraufhin den EuGH zur Auslegung der Richtlinie 2000/78/EG an.

Das entschied das Gericht

Der EuGH erkennt in der tarifvertraglichen Regelung (Art. 173 CCNL), die eine einheitliche maximale Dauer der Arbeitsplatzsicherung im Krankheitsfall vorsieht, keine unmittelbare Diskriminierung, da sie für alle Beschäftigten gleichermaßen gilt. Allerdings kann eine mittelbare Ungleichbehandlung vorliegen, weil Menschen mit Behinderung statistisch gesehen häufiger krankheitsbedingt fehlen und somit eher die Höchstgrenze erreichen.
Diese mittelbare Benachteiligung kann gem. Art. 2 Abs. 2 lit. B der Gleichbehandlungs-Rahmen-RL durch das sozialpolitische Ziel gerechtfertigt sein, sicherzustellen, dass die Beschäftigten in der Lage und verfügbar sind, ihre berufliche Tätigkeit auszuüben, soweit die eingesetzten Mittel zur Differenzierung verhältnismäßig sind. 
Die Regelung im streitgegenständlichen Tarifvertrag erscheine zur Erreichung des Ziels angemessen. Er sei geeignet, sowohl die Interessen der Arbeitgeber (Schutz vor unrentablen Arbeitsverhältnissen) als auch die aller Arbeitnehmer (gewisse Absicherung im Krankheitsfall) zu wahren. 
Für die Prüfung der Erforderlichkeit betonte der EuGH jedoch die besondere Schutzbedürftigkeit von Menschen mit Behinderung. Es komme nicht nur auf die tarifliche Einzelregelung an, sondern auf das gesamte nationale Regelungssystem. Dieses müsse ausreichende Ausgleichsmechanismen enthalten, insbesondere nach Art. 5 der Gleichbehandlungs-Rahmen-RL, wonach Arbeitgeber verpflichtet sind, angemessene Vorkehrungen zum Schutz behinderter Menschen zu treffen. Ob der nationale Rechtsrahmen dies erfüllt, sei Aufgabe des nationalen Gerichts.

Hinweise für die Praxis

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) führt seine bisherige Rechtsprechung fort, dass Menschen mit Behinderung nicht indirekt benachteiligt werden dürfen, wenn nationale Gesetze regeln, wie mit krankheitsbedingten Fehlzeiten umzugehen ist.
Zwar bleibt der EuGH seiner Linie treu, die konkrete Bewertung (Verhältnismäßigkeit) den nationalen Gerichten zu überlassen, also z. B. in Deutschland den Arbeitsgerichten. Für das deutsche Arbeitsrecht hat dieses Urteil allerdings nur begrenzte praktische Auswirkungen. Denn nach der bisherigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) gilt: Bei einer Kündigung wegen Krankheit ist nach ständiger Rechtsprechung des BAG § 1 Abs. 2 KSchG so auszulegen, dass immer im Einzelfall geprüft werden muss, ob die Kündigung gerechtfertigt ist – vor allem muss berücksichtigt werden, wie wahrscheinlich es ist, dass die Person bald wieder gesund wird (Gesundheitsprognose).
Wenn ein Tarifvertrag oder sonstige niederrangige Regelungen in Deutschland pauschal vorschreiben würden, dass Beschäftigte nur für eine bestimmte Zeit krank sein dürfen, wäre das also nicht zulässig, selbst wenn die Person keine anerkannte Behinderung hat. Solche Regelungen würden gegen höherrangiges Recht (KSchG) verstoßen. (al)