Haben Arbeitnehmer in der Wartezeit einen Anspruch auf ein Präventionsverfahren?

Ein schwerbehinderter Arbeitnehmer hat während der Wartezeit, also innerhalb der ersten sechs Monate des Arbeitsverhältnisses, keinen Anspruch auf Durchführung eines Präventionsverfahrens nach § 167 Abs. 1 SGB IX.  So hat es das Bundesarbeitsgericht entschieden.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 03.04.2025, 2 AZR 178/24

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Redaktion
Stand:  2.12.2025
Lesezeit:  02:15 min
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Das ist passiert:

Ein schwerbehinderter Arbeitnehmer war seit dem 01. Januar 2023 als Leiter für die Haus- und Betriebstechnik beschäftigt. Es wurde eine Probezeit von sechs Monaten vereinbart. Die Schwerbehinderteneigenschaft des Arbeitnehmers war bei Vertragsschluss bekannt und wurde bei der Stellenbesetzung im Hinblick auf das Anforderungsprofil und individuelle Leistungsvermögen berücksichtigt. Mit Schreiben vom 30. März 2023 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis innerhalb der Probe- und Wartezeit, ohne ein Präventionsverfahren nach § 167 Abs. 1 SGB IX durchgeführt zu haben. 

Der Kläger wehrte sich gegen die Kündigung im Wege einer Kündigungsschutzklage und stützte sich dabei auf einen Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot, gem. § 7 Abs. 1, §§ 1, 3 AGG i.V.m. § 134 BGB, und darauf, dass ein Präventionsverfahren, gem. § 167 Abs. 1 SGB IX hätte durchgeführt werden müssen. Im Übrigen war er der Ansicht, die Kündigung sei wegen Unterlassens angemessener Vorkehrungen nach § 242 BGB unwirksam. Der Arbeitgeber gab an, dass sich der Kläger als fachlich ungeeignet erwiesen habe und dass ein anderer freier Arbeitsplatz nicht vorhanden sei.

Das sagt das Gericht:

Die Kündigung des schwerbehinderten Arbeitnehmers ist nicht aufgrund fehlenden Präventionsverfahrens nichtig und im Übrigen auch nicht unwirksam, so das Bundesarbeitsgericht. Dass der Arbeitgeber in den ersten sechs Monaten des Arbeitsverhältnisses kein Präventionsverfahren durchgeführt hatte, ist kein Verstoß gegen § 167 Abs. 1 SGB IX.

Ein Präventionsverfahren gem. § 167 Abs. 1 SGB IX kommt erst dann in Betracht, wenn auch das Kündigungsschutzgesetz anwendbar ist, d.h. wenn das Arbeitsverhältnis länger als sechs Monate bestanden hat und im Betrieb mehr als fünf Arbeitnehmer beschäftigt werden, §§ 1 Abs. 1, 23 Abs. 1 S. 2 KSchG. Das BAG begründet dies mit dem Wortlaut des § 167 Abs. 1 SGB IX, der an die in § 1 Abs. 2 KSchG verwendete Terminologie anknüpft. Das Präventionsverfahren soll bei „Eintreten von personen-, verhaltens- oder betriebsbedingten Schwierigkeiten im Arbeits- oder sonstigen Beschäftigungsverhältnis“ durchgeführt werden. Mit den in § 1 Abs. 2 KSchG verwendeten Begriffen „Gründe … in der Person“, „Gründe … in dem Verhalten“ und „dringende betriebliche Erfordernisse“ wird damit an die Begrifflichkeit des Kündigungsschutzgesetzes angeknüpft. Nach Ansicht des Gerichts hätte der Gesetzgeber, sofern er die Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des Kündigungsschutzgesetzes ausschließen wollte, lediglich „Schwierigkeiten im Arbeitsverhältnis“ als Voraussetzung in § 167 Abs. 1 SGB IX benennen können.

Zudem hat nach Ansicht des Gerichts die Nichtdurchführung eines Präventionsverfahrens nicht die Unwirksamkeit der Kündigung zur Folge, da die Durchführung eines Präventionsverfahrens keine formelle Wirksamkeitsvoraussetzung für eine Kündigung ist. So enthält die Vorschrift des § 167 Abs. 1 SGB IX im Gegensatz zu beispielsweise § 178 Abs. 2 S. 3 SGB IX bei unterlassener Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung nicht die Anordnung einer Unwirksamkeitsfolge.

Nach der historischen Auslegung des § 167 Abs. 1 SGB IX soll die Regelung ebenfalls im Geltungsbereich des Kündigungsschutzgesetzes Anwendung finden. So hat der Gesetzgeber die Vorschrift des § 167 Abs. 1 SGB IX in jüngerer Zeit zweimal geändert, um das Bundesteilhabegesetz und das Teilhabestärkungsgesetz zu integrieren. Nach Annahme des BAG habe der Gesetzgeber die gefestigte Rechtsprechung mehrerer Senate des BAG zur Kenntnis genommen. Er hat sich obgleich nicht veranlasst gesehen, den Wortlaut der Vorschrift zu ändern.

Zugleich hält das BAG diese Auslegung für unionskonform und mit der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar. Insbesondere werde einem Arbeitnehmer während der Wartezeit oder im Kleinbetrieb mit dem Präventionsverfahren keine angemessene Vorkehrung im Sinne des Art. 5 der Richtlinie 2000/78/EG sowie des Art. 27 Abs. 1 S. 2 iVm Art. 2 Unterabs. 3 und 4 UN-BRK vorenthalten. 

Die Kündigung stand auch nach Ansicht des Gerichts in keinem Zusammenhang mit der Behinderung des Klägers.

Bedeutung für die Praxis:

In der jüngeren Vergangenheit hatte das Landesarbeitsgericht Köln mit seiner Entscheidung vom 12.09.2024 (6 SLa 76/24) darauf hingewiesen, dass ein Präventionsverfahren in der Probezeit durchzuführen sei. Dem tritt diese Rechtsprechung nun entgegen. (LZ)