„Eine gut gemachte Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen ist ein Gewinn für alle“

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Stand:  13.11.2025
Lesezeit:  04:15 min
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Dr. Simon Senner zu Zielen, Methoden und der Rolle von Mitarbeitern und Führungskräften bei der GBU Psyche

Ohne ein klares Konzept im Unternehmen beim Thema psychische Belastung entstehen auf allen Seiten Probleme, Unsicherheiten und auch Konflikte, sagt Dr. med. Simon Senner. Mit dem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie sprachen wir darüber, wie Führungskräfte, Mitarbeiter und Betriebsräte gemeinsam gesunde Arbeitsbedingungen schaffen können und warum die Gefährdungsbeurteilung Psyche kein Pflichtproramm, sondern eine echte Chance für Beschäftige und Betriebe ist.    

Dr.med. Simon Senner

Dr. med. Simon Senner ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, Chefarzt am ZfP Reichenau/Konstanz und lehrt an der TU München. Er berät seit 2017 Unternehmen zum Thema psychische Belastungen.

Herr Dr. Senner, Sie beraten Unternehmen beim Thema psychische Belastungen. Was ist Ihnen an diesem Thema wichtig, warum liegt es Ihnen am Herzen?

Simon Senner: Wenn man bei der Behandlung von Menschen mit psychischen Belastungen und Erkrankungen erfolgreich sein möchte, dann reicht es nicht, nur die Therapien zu verbessern. Man muss an das familiäre Umfeld, das soziale Umfeld und ganz besonders auch an den Arbeitsplatz denken. In den Kliniken sind wir Ärzte und Therapeuten darauf angewiesen, dass alle Parteien an einem Strang ziehen: Führungskräfte, Betriebsrat und natürlich die Mitarbeiter. Ohne ein klares Konzept im Unternehmen beim Thema psychische Belastung entstehen auf allen Seiten Probleme, Unsicherheiten und auch Konflikte. Und man darf die stark gestiegenen Fehltage wegen psychischer Erkrankungen nicht vergessen.

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Die Fehltage wegen psychischer Erkrankungen haben sich in den letzten 20 Jahren ungefähr verdreifacht.

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Was hat sich mit Blick auf die Fehltage verändert in den letzten Jahren?

Simon Senner: Die Fehltage wegen psychischer Erkrankungen haben sich in den letzten 20 Jahren ungefähr verdreifacht. Das hängt oft auch mit der Arbeit zusammen, sie wird immer komplexer, dichter und digitaler. Um es mal so zu formulieren: Das Rad dreht sich immer schneller, was immer weniger zur psychischen Widerstandsfähigkeit der Menschen passt. Psychische Erkrankungen sind ebenso wie körperliche Erkrankungen genau das: Erkrankungen! „Der ist schwach und halt etwas komisch“, solche Aussagen sind längst wissenschaftlich nicht mehr haltbar. Resilienz und Widerstandsfähigkeit müssen deshalb mehr ins Bewusstsein rücken.

Sind wir eigentlich alle gleich resilient – oder gibt es da individuelle Unterschiede?

Simon Senner: Die Krankheitsanfälligkeit ist bei jedem anders, ebenso wie die genetische Vulnerabilität. Gibt es in meinem Stammbaum psychische Erkrankungen? Dann habe ich eventuell ein erhöhtes Risiko, selbst zu erkranken. Dazu können einschneidende Lebensereignisse kommen, traumatische Erfahrungen, vielleicht Vernachlässigung in der Kindheit oder Mobbing. Das kann zur Folge haben, dass manche Mitarbeiter sehr schnell gestresst sind, andere aber nach fünf Extraprojekten noch gute Laune haben. Man kann sich das bildlich wie bei einem Fass vorstellen: Bei manchen ist das Fass zum Zeitpunkt der Geburt noch recht leer, bei anderen schon halb voll – hier läuft es natürlich bei zunehmendem Stress in der Arbeit oder privat schneller über.

Woran erkenne ich denn an mir selbst, dass es kritisch wird, also das Fass bald überläuft?

Simon Senner: Die Warnsignale sind sehr individuell. Bei mir persönlich zuckt nach einem 24 Stunden-Dienst im Krankenhaus das rechte Augenlid. Die Muskelkontraktionen kann ich nicht beeinflussen, aber ich verstehe sie als Warnsignal, als gelbe Karte – ich weiß, jetzt muss ich auf die Bremse drücken. Das können bei anderen Menschen Ohrgeräusche sein, Nackenschmerzen oder Verdauungsprobleme. Es gibt viele körperliche Warnsignale. Das Problem ist: Gerade in stressigen Zeiten, wenn viel los ist auf der Arbeit, verlieren wir oft das Gespür für den eigenen Körper. Gefährlich wird das bei dauerhaftem Stress, der die Gesundheit schädigt. Wie stark, das hängt natürlich auch vom Privatleben ab, aber machen wir uns nichts vor: Es macht einen großen Unterschied, wie es am Arbeitsplatz zugeht. Und genau diese Einflussfaktoren sind Thema der Gefährdungsbeurteilung.

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Bei den Beschäftigten herrscht oft der Irrglaube, dass es auf die Belastungen im Einzelfall ankommt. Das tut es nicht!

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Welche Aufgabe hat die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen – und welche nicht?

Simon Senner: Zunächst einmal ist sie eine gesetzliche Pflicht für den Arbeitgeber aus dem Arbeitsschutzgesetz, es ist genauso verpflichtend wie z.B. Steuern zu zahlen. Trotzdem machen das viele Unternehmen einfach noch nicht, sie halten sich nicht an das Gesetz. Ziel der GBU Psyche ist es, psychische Belastungen systematisch zu erkennen und zu bewerten, um gesunde Arbeitsbedingungen zu schaffen – und zu erhalten. Bei den Beschäftigten herrscht oft der Irrglaube, dass es auf die Belastungen im Einzelfall ankommt. Das tut es nicht! Es geht um Belastungsfaktoren für die meisten oder fast sogar alle Mitarbeiter im Team bzw. in der Abteilung.

Haben Sie Beispiele für solche gemeinschaftlichen Belastungen?

Simon Senner: Ein sehr häufiges Beispiel ist die fehlende Wertschätzung. In Untersuchungen sagt fast jeder zweite Beschäftigte, dass er nicht genug Wertschätzung – im Verhältnis zu seinem Einsatz (!) erfährt. Andere häufig auftretende Beispiele sind Unterbrechungen oder Informationsüberflutung. Wichtig ist immer, dass man sich solche Belastungsfaktoren in einem größeren Zusammenhang anschaut: Sehr viel Arbeit kann eine Belastung für die psychische Gesundheit sein. Habe ich aber gleichzeitig einen großen Handlungsspielraum bei der Einteilung meiner Arbeit bleibe ich vielleicht noch gesund. Problematisch ist beispielsweise eine Arbeitsmenge plus Mikromanagement. Gleiches gilt für einen hohen Einsatz auf der Arbeit, wenn die Wertschätzung dafür da ist – oder eben fehlt. Erst in der Kombination entsteht oft das Problem.

Bleiben wir kurz bei der Wertschätzung und dem Mikromanagement – beides wird von der Führungskraft gesteuert. Müsste man dann nicht auch mit der Gefährdungsbeurteilung direkt bei den Führungskräften ansetzen?

Simon Senner: Die Gefährdungsbeurteilung ist primär kein Bewertungsinstrument der Führungskräfte oder der Führung. Natürlich hat eine Führungskraft sehr wohl einen großen Einfluss auf die Gesundheit der Mitarbeiter. Aber zu sagen: Meine Führungskraft ist alleinig schuld, dass ich psychisch erkranke, das ist wissenschaftlich nicht haltbar. Wenn die Gefährdungsbeurteilung richtig gemacht ist, begleitet man mit ihr konstruktive Veränderungen zum Guten. Dabei kann es dann auch um den Führungsstil – Stichwort: „Gesund Führen“ - gehen. Wichtig ist bei jeder Gefährdungsbeurteilung aber zunächst im Unternehmen die sorgfältige Auswahl der Methoden.

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Für eine gute Gefährdungsbeurteilung sollte man mehrere Methoden kombinieren.

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Welche Methoden gibt es und wie werden sie genutzt?

Simon Senner: Das ist ganz individuell und hängt davon ab, was am besten zum Unternehmen passt. Oft wird zunächst ein anonymer Fragebogen genutzt, in dem sich jeder frei öffnen kann. Was aber, wenn Mitarbeiter hier Probleme als extrem ankreuzen, weil sie es „denen da oben“ mal zeigen wollen? Oder wenn sie bagatellisieren, weil sie befürchten, dass das Ganze doch nicht so anonym ist? Für eine gute Gefährdungsbeurteilung sollte man deshalb mehrere Methoden kombinieren, wie zum Beispiel einen anonymen Fragebogen plus einen anschließenden Workshop mit einer Feinanalyse.

Warum der zweite Schritt?

Simon Senner: Hierzu vielleicht ein Beispiel. Ich habe einmal in einem großen Unternehmen erlebt, dass die Mitarbeiter einer Abteilung sehr schlechte Werte beim Thema Wertschätzung vergeben haben. Die Führungskraft war irritiert, weil sie das völlig anders eingeschätzt hatte. Bei der Analyse wurde dann klar: Die Mitarbeiter hatten die Frage falsch verstanden und gar nicht die Führungskraft gemeint, sondern einen Kunden, der wenig wertschätzend mit ihnen umgeht.

Das verdeutlicht, wie wichtig es ist, dass eine Gefährdungsbeurteilung nie einfach nur ein Fragebogen sein kann. Oft lässt ich daraus gar nicht ableiten, wo die Ursache des Problems liegt. Und ohne tiefes Verständnis der Ursachen lässt sich natürlich auch keine passgenaue Lösung entwickeln. Und das Ergebnis des Fragebogens einfach in die Schreibtischschublade zu stecken, weil man glaubt „das war doch jetzt die Gefährdungsbeurteilung“, das ist definitiv der falsche Weg und führt zu Frustration.

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Oft herrscht eine hohe Resignation in Betrieben ...

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Was müssen und können Mitarbeiter tun, um den Prozess zu unterstützen?

Simon Senner: Oft herrscht eine hohe Resignation in Betrieben, da wird gesagt: Oh, jetzt machen wir schon wieder so eine Gefährdungsbeurteilung Psyche, das hat doch das letzte Mal vor drei Jahren auch schon nichts gebracht... Dabei ist es so wichtig, hier als Arbeitnehmer konstruktiv mitzuwirken und gemeinsam mit seiner Führungskraft ein klares Erwartungsmanagement zu erarbeiten. Was können wir ändern? Welche Maßnahmen sind realistisch? Eine Führungskraft kann Veränderungen nicht überstülpen, sondern ist auf Mitarbeit angewiesen. Erst durch den Input der Mitarbeiter entstehen wirklich wirkungsvolle Maßnahmen. Jeder einzelne Mitarbeiter sollte das größte Interesse daran haben, dass die Gefährdungsbeurteilung Psyche erfolgreich wird. Gut gemacht profitiert jeder einzelne Mitarbeiter vom Ergebnis.

Wann ist denn eine Gefährdungsbeurteilung Psyche „vorbei“, also wann war sie erfolgreich?

Simon Senner: Eine Gefährdungsbeurteilung Psyche hat, wenn man sie richtig machen möchte, gar kein Ende, sondern es ist ein kontinuierlicher Prozess. Denn wenn der Arbeitgeber Maßnahmen evaluiert und dokumentiert hat, geht es eigentlich schon wieder von vorne los. Unsere moderne Arbeitswelt verändert sich so schnell, da muss man immer am Ball bleiben. Alle drei Jahre eine GBU Psyche? Das ist zu wenig, weil sich in diesen drei Jahren schon wieder viel verändert hat, in der Regel auch mit neuen, zumindest aber veränderten Arbeitsbelastungen. Es kommt also darauf an, ob man als Arbeitgeber einfach nur das Gesetz erfüllen möchte, oder ob man wirklich erfolgreich sein möchte damit. Denn eine gut gemachte Gefährdungsbeurteilung Psyche ist ein Gewinn für alle! (cbo)

Psychische Erkrankungen sind deutlich häufiger, als wir denken

  • Jeder dritte Deutsche erkrankt während seines Lebens an einer psychischen Erkrankung.   
  • Aber: 75% der Betroffenen befinden sich nicht in medizinischer oder psychologischer Behandlung. 

Was tun?  

Psychische Arbeitsbelastungen sind EIN Einflussfaktor für die psychische GesundheitDie Gefährdundungsbeurteilung Psyche ist deshalb eine echte Chance und sollte gut vorbereitet, sorgfältig durchgeführt und evaluiert werden.  

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