Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass schwerbehinderte Menschen, die in Werkstätten für behinderte Menschen arbeiten (sog. Werkstattbeschäftigte), bei der Wahl zur Schwerbehindertenvertretung wahlberechtigt sind.
Worum geht es?
Alle Menschen mit Behinderung haben ein Anrecht auf Teilhabe am Arbeitsleben. Sofern erwartet werden kann, dass diese Personengruppe nach Maßnahmen im Berufsbildungsbereich ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung erbringen kann, steht ihnen eine Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen offen (§ 219 SGB IX).
Laut Rehadat arbeiten an mehr als 3.000 Standorten in über 700 Hauptwerkstätten über 310.000 Werkstattbeschäftigte und rund 70.000 Fachkräfte. In den vergangenen Jahren ist der Anteil an Menschen mit psychischen Erkrankungen innerhalb der Werkstätten angestiegen.
Das Bundesarbeitsgericht hat nun entschieden, dass schwerbehinderte Werkstattbeschäftigte bei der Wahl zur Schwerbehindertenvertretung wahlberechtigt sind. Wichtig: Im kirchlichen Bereich können aufgrund der eigenen Gesetze zur Mitbestimmung abweichende Regelungen gelten.
Kann jeder Werkstattbeschäftigte an der Wahl teilnehmen?
Nein, Voraussetzung für das aktive Wahlrecht bleibt die anerkannte Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung nach § 2 Abs. 2, 3 SGB IX.
In Werkstätten arbeiten auch schwerbehinderte Menschen unter rechtlicher Betreuung. Haben diese ein Wahlrecht?
In der Demokratie ist die Teilnahme an freien Wahlen ein besonders hohes und schützenswertes Gut. Und das Bundesteilhabegesetz stärkt das Recht auf Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung. Dies spricht dafür, den Kreis der Nicht-Wahlberechtigten klein zu halten. Orientierung kann hier das Bundeswahlgesetz (BWahlG) geben.
Ein Wahlberechtigter, der des Lesens unkundig oder wegen einer Behinderung an der Abgabe seiner Stimme gehindert ist, kann sich hierzu der Hilfe einer anderen Person bedienen, § 14 Abs. 5 BWahlG. Die Hilfeleistung ist dabei auf technische Hilfe bei der Kundgabe einer vom Wahlberechtigten selbst getroffenen und geäußerten Wahlentscheidung beschränkt. Die Wahlordnung der Schwerbehindertenvertretungen erläutert in § 10 Abs. 4, dass ein Wähler, der infolge seiner Behinderung bei der Stimmabgabe beeinträchtigt ist, eine Person bestimmen soll, die ihm bei der Stimmabgabe behilflich ist.
Dies spricht dafür, allen Menschen ein Wahlrecht einzuräumen, wenn Sie in der Lage sind, ihren Willen selbstständig zu bilden und zu artikulieren.
Streitpunkt in der Praxis: Wer ist für welchen Bereich zuständig?
Vertrauenspersonen berichten, der Werkstattrat würde damit argumentieren, dass er die Interessen aller Werkstattbeschäftigten ausreichend vertreten würde und auch die sich teilweise überschneidenden Kompetenzbereiche gegen eine Zuständigkeit der SBV in Werkstätten spräche. Ist das so? Nein! Dieser Auffassung erteilen die Richter des Bundesarbeitsgerichts in ihrem Beschluss eine klare Absage.
Blick auf die unterschiedlichen Bereiche einer Werkstatt (§§ 57, 58 SGB IX)
- Das Eingangsverfahren
Im Eingangsverfahren wird geprüft, ob die Werkstatt überhaupt die geeignete Eingliederungsmaßnahme für den behinderten Menschen ist und welche spezifischen Werkstattbereiche und/oder ergänzenden Leistungen für Betroffene in Frage kommen (Dauer: bis zu drei Monaten). - Der Berufsbildungsbereich
Hier sollen Betroffene befähigt werden, durch unterschiedliche Berufsbildungsmaßnahmen ein Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Arbeitsleistung zu erbringen. Dabei werden die Angebote auf die verschiedenen Fähigkeiten, Neigungen und Art und Schwere der Behinderung abgestimmt. Der Zeitraum erstreckt sich über zwölf Monate und kann auf zwei Jahre verlängert werden. - Der Arbeitsbereich
In den Werkstätten findet im Anschluss an die geschilderten Maßnahmen der Alltag der Beschäftigten statt: In den unterschiedlichsten Fachbereichen werden die Produktionsaufträge abgearbeitet oder entsprechende Dienstleistungen erbracht. Die Ausstattung der Arbeitsplätze soll so weit als möglich denjenigen auf dem ersten Arbeitsmarkt entsprechen. Im Idealfall können Beschäftigte durch entsprechende arbeitsbegleitende Fördermaßnahmen für den ersten Arbeitsmarkt weiterqualifiziert werden. - Der Förderbereich
Scheidet eine Tätigkeit in einem der Arbeitsbereiche aus, bieten viele Werkstätten eine angeschlossene Fördergruppe oder Tagesförderstätte an.
Aus den Entscheidungsgründen des Beschlusses
Die Regelungen zur Schwerbehindertenvertretung (§§ 176 ff. SGB IX) und zu den Werkstätten für schwerbehinderte Menschen, insbesondere die dortigen Regelungen über die Werkstatträte (§§ 219 ff. SGB IX), stehen in keinem erkennbaren Spezialitätsverhältnis zueinander, so das Bundesarbeitsgericht: “Es handelt sich vielmehr um unterschiedliche, im Verhältnis zueinander gleichrangige Kapitel innerhalb der in Teil 3 des SGB IX enthaltenen besonderen Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen. Es ist kein Grund ersichtlich, warum die SBV nicht auch für schwerbehinderte Werkstattbeschäftigte die Durchführung der zugunsten schwerbehinderter Menschen geltenden Vorschriften überwachen oder Anregungen und Beschwerden dieser Personengruppe entgegennehmen sollte.“
Kompetenzüberschneidungen und -konflikte sollen im Sinne der vertrauensvollen Zusammenarbeit nach § 8 Abs. 1 Werkstätten-Mitwirkungsverordnung (WMVO) gelöst werden, so die Richter in ihrer Urteilsbegründung.
Freistellung und Heranziehung
Schwerbehindertenvertretungen in Werkstätten werden nach der Wahl 2026 möglicherweise einen Freistellungsanspruch haben, (§ 179 Abs. 4 Satz 2 SGB IX). Die Freistellung ist auf Wunsch der SBV auszusprechen. Der Gesetzgeber ging davon aus, dass ab 100 betreuten Kollegen der Arbeitsaufwand so hoch sei, dass oftmals ein Nebeneinander von SBV -Arbeit und regulärer Arbeit nicht mehr möglich ist. Ab 101 betreuten Kollegen kann die SBV den ersten Stellvertreter zu bestimmten Aufgaben heranziehen, § 178 Abs. 1 Satz 4 SGB IX.
Zuständigkeit der SBV
Hinsichtlich der „klassischen Aufgaben“ einer SBV, wie sie v.a. in § 178 SGB IX definiert sind, gilt weiterhin: Die Zuständigkeit der Vertrauensperson beschränkt sich auf den Personenkreis, der schwerbehindert oder gleichgestellt ist.
SBV-Tipps!
- Die Schwerbehindertenvertretung sollte frühzeitig mit dem Arbeitgeber das Gespräch suchen, um die Zahl der Wahlberechtigten für die 2026 anstehende SBV-Wahl zu klären. Unter Umständen greift das förmliche Wahlverfahren; dieses ist an strenge Fristen und Formalien gebunden und bedarf aufgrund der Komplexität einer zeitlichen Vorbereitung. Die Mindestfristen im förmlichen Wahlverfahren belaufen sich auf acht Wochen. Mehr dazu unter www.sbv-wahl.de.
- Aufgrund der Anzahl der Wahlberechtigten hat nach der SBV-Wahl 2026 die Schwerbehindertenvertretung ggf. einen Anspruch auf Freistellung. Wichtig ist auch hier, frühzeitig das Gespräch mit dem Arbeitgeber zu suchen. SBV und Arbeitgeber sollten aufgrund des Gebots der engen Zusammenarbeit (§ 182 SGB IX) nach der Wahl die betriebliche Situation und den Arbeitsaufwand der SBV genau analysieren denn: Eine Freistellung kann erhebliche Auswirkungen auf die Arbeitsorganisation haben. (gs)