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Flucht aus der Mitbestimmung bei Tesla

Tesla ist nur die Spitze des Eisbergs

Mit Teslas „Gigafactory“ in Grünheide erhofft sich das Land Brandenburg 12.000 neue Arbeitsplätze. Gleichzeitig wird die Kritik am Umgang mit Beschäftigten bei Tesla immer lauter, denn die Mitbestimmung soll eiskalt ausgeklammert werden. Und das ist offenbar legal! Warum Tesla nur die Spitze des Eisbergs ist, erläutert Dr. Werner Altmeyer.

Geschäftsführer der EWC Academy Dr. Werner Altmeyer

Dr. Werner Altmeyer

Stand:  14.12.2020
Lesezeit:  05:15 min
© AdobeStock_Björn Wylezich

Im November 2019 gab das US-Unternehmen Tesla bekannt, seine einzige europäische Gigafactory für Elektrofahrzeuge und Batterien in einem Waldgebiet 40 Kilometer östlich von Berlin zu bauen und ab 2021 die Produktion zu starten. 12.000 Arbeitsplätze sollen entstehen. Bisher wurden Tesla-Autos nur in den USA hergestellt, seit Oktober 2019 auch in China.

Genau wie Amazon will Tesla weder Tarifvertrag noch Mitbestimmung.

Kein Tarifvertrag, keine Mitbestimmung

Genau wie Amazon will Tesla weder Tarifvertrag noch Mitbestimmung. In den USA klagen die 45.000 Beschäftigten von Tesla über niedrige Löhne, häufige Arbeitsunfälle und ein gewerkschaftsfeindliches Klima. Das Einstiegsgehalt für Fabrikarbeiter liegt 30% unterhalb des Durchschnittslohns der Branche. Seit Januar 2017 gehört die Firma Grohmann Automation mit 800 Beschäftigten aus Prüm (Eifel) zu Tesla. Dort lieferte sich die IG Metall mit dem US-Konzern über Monate hinweg eine Auseinandersetzung über einen Tarifvertrag. Die Gehälter wurden am Ende 30% angehoben und es gibt eine Arbeitsplatzgarantie bis 2022.

Unredliche Wettbewerbsvorteile?

Die neu gegründete Gesellschaft für die deutsche Gigafactory ist die Tesla Manufacturing Brandenburg SE, eine Briefkastenfirma, die zunächst ihren Sitz in der Privatwohnung eines Rechtsanwalts in Brandenburg an der Havel hatte. Mit der frühzeitigen Gründung einer SE, also einer Europäischen Aktiengesellschaft, will Tesla die Mitbestimmung im Aufsichtsrat später komplett vermeiden. 

„Tesla verschafft sich unredliche Wettbewerbsvorteile gegenüber anderen Automobilherstellern in Deutschland“, sagt der stellvertretende Bundesvorsitzende der Christlich Demokratischen Arbeitnehmerschaft (CDA), Christian Bäumler, gegenüber dem Handelsblatt. IG-Metall-Bezirksleiter Stefan Schaumburg erwartet dagegen, „dass Tesla die deutsche Mitbestimmungskultur respektiert, die gerade in der deutschen Automobilindustrie intensiv und erfolgreich gelebt wird“. Grund für Optimismus gibt es jedoch wenig.

Eine legale Flucht aus der Mitbestimmung ist durch die Rechtsform der SE möglich.

Legale Flucht aus der Mitbestimmung

Eine legale Flucht aus der Mitbestimmung ist durch die Rechtsform der SE möglich. Über 80% aller SE-Umwandlungen in Europa entfallen allein auf Deutschland, wo sich durchschnittlich jeden Monat ein Unternehmen von einer AG in eine SE umwandelt. Die Rechtsform ist gerade bei Familienunternehmen beliebt, weil die Mitbestimmung im Aufsichtsrat entweder komplett vermieden oder eingefroren werden kann. Immer wieder finden SE-Umwandlungen kurz vor Erreichen der gesetzlichen Schwellenwerte von 500 Arbeitnehmern in Deutschland (Drittelbeteiligung) oder 2.000 (paritätische Mitbestimmung) statt, manchmal sogar in letzter Minute.

Negativbeispiel Zalando 

58 Unternehmen mit 236.000 Beschäftigten in Deutschland würden ohne SE-Umwandlung heute der paritätischen Mitbestimmung unterliegen. Ein besonders krasses Beispiel von Mitbestimmungsflucht ist der Versandhändler Zalando: Er wurde 2008 in Berlin gegründet und hat inzwischen 14.000 Beschäftige, davon 6.500 in Deutschland. Hier konnte sogar nach dem Überschreiten der 2.000er Grenze – rechtswidrig – die Drittelbeteiligung eingefroren werden.

Brexit treibt ostdeutsche Klinikgruppe in die SE

Ortswechsel: Bad Wilsnack. In der kleinen Kurstadt in der Prignitz, auf halbem Weg an der ICE-Strecke zwischen Hamburg und Berlin, hat die KMG Kliniken SE ihren Sitz. Der 1991 gegründete Gesundheitskonzern hat 5.200 Beschäftigte in vier ostdeutschen Bundesländern, aber keine ausländischen Niederlassungen. Bereits 2010 kam das Unternehmen an die Schwellenwerte des Mitbestimmungsgesetzes. Um einen paritätischen Aufsichtsrat zu vermeiden, wurde der Firmensitz von Bad Wilsnack in die Räume einer Londoner Anwaltskanzlei verlegt. Doch der drohende Brexit trieb die Klinikgruppe wieder zurück nach Brandenburg, wobei die Rechtsform SE die Mitbestimmungsflucht absicherte. Auf einer Sitzung in Güstrow unterzeichneten die deutschen Betriebsräte im Oktober 2018 mit dem "englischen" Verwaltungsrat eine SE-Vereinbarung. Unmittelbar danach wurde die arbeitnehmerlose Londoner Holding von der Rechtsform plc in eine SE umgewandelt. Die Mitbestimmung im Aufsichtsrat ist damit vollständig abgeschafft.

1,4 Millionen Beschäftigte sind betroffen

Immer mehr Unternehmen nutzen ausländische Rechtsformen, um den Einfluss der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat zu begrenzen oder um die Mitbestimmung komplett zu umgehen. Waren es im Jahr 2000 nur drei Einzelfälle, so sind 2015 schon 5% und 2020 sogar mehr als 17% aller Unternehmen mit mehr als 2.000 Arbeitnehmern in Deutschland diesen Weg gegangen. Die Hans-Böckler-Stiftung legte im April 2020 aktuelle Zahlen vor. Bereits 2015 bezeichnete sie den Zuwachs als "dramatisch", doch seither sind die Zahlen geradezu explodiert.

In 113 großen Unternehmen mit knapp 660.000 Arbeitnehmern wird das Mitbestimmungsgesetz schlicht ignoriert.

Mehr als 1,4 Mio. Beschäftigte in 194 Großunternehmen sind durch legale juristische Konstruktionen von einer paritätischen Mitwirkung im Aufsichtsrat ausgeschlossen.  150 dieser Unternehmen nutzen eine Rechtsform mit europäischem Bezug (keine SE). In weiteren 113 großen Unternehmen mit knapp 660.000 Arbeitnehmern wird das Mitbestimmungsgesetz schlicht ignoriert und Aufsichtsräte nur mit Anteilseignervertretern besetzt. Werden deutsche und ausländische Rechtsformen kombiniert, fällt ein Unternehmen – selbst wenn es ausschließlich in Deutschland tätig ist – nicht mehr unter das Mitbestimmungsgesetz. Ein solches Beispiel ist der Meyer-Neptun-Konzern aus Papenburg an der Ems, der Luxemburg zum größten Standort für Hochsee-Kreuzfahrtschiffe machte.

Deutsche Mitbestimmung in englischem Seebad versenkt

Ortswechsel: Hamburg, City-Süd. In dem Büroviertel zwischen Hauptbahnhof und Elbbrücken hat der japanische Konzern Olympus, ein Hersteller von Kameras und Mikroskopen, seine Europa-Zentrale und steuert 30 Tochtergesellschaften mit 7.000 Arbeitnehmern. 2013 wurde der deutsche Aufsichtsrat plötzlich aufgelöst, der damals zu einem Drittel mit Betriebsratsmitgliedern besetzt war. Die bisherige Holding wurde in eine SE & Co. KG umgewandelt und nach Southend-on-Sea verlagert, faktisch aber weiterhin von Hamburg aus geleitet. 2017 wurde die Holding nach Hamburg zurückverlagert. Da es mehr als 2.000 Arbeitnehmer in Deutschland gibt, wäre die paritätische Mitbestimmung anwendbar. Seit August 2019 klagt der deutsche Konzernbetriebsrat für die (Wieder-)Einführung der Mitbestimmung im Aufsichtsrat und steht inzwischen vor dem Bundesarbeitsgericht.

Der Streit um die Mitbestimmung im Aufsichtsrat | © AdobeStock | schemev

"Management SE" ohne Arbeitnehmer

Wie bei Olympus, aber ohne den Umweg über England, gründen immer mehr deutsche Unternehmen eine "Management SE" ohne Arbeitnehmer, die als Komplementär in eine SE & Co. KG einsteigt, so z. B. die Transportunternehmen Hellmann Worldwide Logistics aus Osnabrück oder die Nagel-Group aus Versmold, der Hersteller von Reinigungsgeräten Kärcher aus Winnenden (alle mit je rund 12.000 Beschäftigten), der Abfallentsorger Remondis aus Lünen (32.000 Beschäftigte), der Maschinenbauer Voith aus Heidenheim sowie ein Gemeinschaftsunternehmen der Dortmunder Rewe Genossenschaft und der Rewe Group in Köln. Eingeschränkte Mitbestimmungsrechte haben 370.000 Beschäftigte in 24 Großunternehmen in der Rechtsform einer Kommanditgesellschaft auf Aktien (KGaA). Dort gibt es zwar einen paritätischen Aufsichtsrat, der hat aber nur rudimentäre Kompetenzen. Dieses Modell wurde zuletzt beim Saatguthersteller KWS Saat aus Einbeck und dem Medizinsoftwareentwickler CompuGroup Medical aus Koblenz gewählt.

SE-Frage vor dem Europäischen Gerichtshof

Am 18. August 2020 legte das Bundesarbeitsgericht (BAG) erstmals in der Geschichte der SE-Gesetzgebung eine Mitbestimmungsfrage dem Europäischen Gerichtshof vor. Die Gewerkschaften ver.di und IG Metall wollen mit der Klage ihre Sitze im Aufsichtsrat des Softwarekonzerns SAP behalten, die ihnen bei der Umwandlung in eine Europäische Gesellschaft (SE) 2014 zugesichert wurden. Infolge einer Verkleinerung des Aufsichtsrates wurden sie 2019 dort herausgedrängt.

Gefordert wird ein „Mitbestimmungserstreckungsgesetz"

Forderung nach gesetzlichen Änderungen

Nach Meinung der Hans-Böckler-Stiftung soll der Gesetzgeber sicherstellen, dass alle Unternehmen ab 500 Arbeitnehmer in Deutschland die Mitbestimmungsgesetze anwenden, auch bei Konstruktionen mit ausländischer Rechtsform. Bei der SE sollen Mitbestimmungsrechte automatisch wachsen, wenn Schwellenwerte (500 bzw. 2.000 Arbeitnehmer) überschritten sind. Wenn das Mitbestimmungsgesetz rechtswidrig ignoriert wird, soll ein Unternehmen effektiv sanktioniert werden. Sicherstellen könnte dies ein „Mitbestimmungserstreckungsgesetz“.

Deutsche Mitbestimmung unter Druck 

Ortswechsel: Hannover. Am 30. September 2020 beschloss der paritätisch mitbestimmte Aufsichtsrat des deutschen Automobilzulieferers Continental gegen die Stimmen der zehn Arbeitnehmervertreter den Abbau von 4.800 Arbeitsplätzen und die Schließung der Werke in Aachen und Karben (bei Frankfurt). Am 18. November 2020 stand die Schließung des Werkes in Roding in der Oberpfalz auf der Tagesordnung, die Arbeitnehmerseite wurde erneut überstimmt. Den Ausschlag gab der Vorsitzende des Aufsichtsrates von der Anteilseignerseite, der bei Stimmengleichheit eine doppelte Stimme hat. In deutschen Aufsichtsräten sind solche Kampfabstimmungen sehr selten, in der Regel wird vorher ein Konsens gesucht. Im Juni 2017 hatte die Fusion der Gasproduzenten Linde und Praxair zu einer ähnlichen Situation mit erheblichem Presseecho geführt.

Continental hat mit der Corona-Krise zu kämpfen und will sich gleichzeitig stärker auf Digitalisierung und Elektromobilität ausrichten. Weltweit stehen 30.000 Arbeitsplätze zur Debatte, darunter 13.000 in Deutschland. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) hatte sich über das Ausmaß irritiert gezeigt und der Vorsitzende der Gewerkschaft IG BCE, Michael Vassiliadis, sprach sogar von einem "Kahlschlag-Konzept" des Unternehmens. "Continental hat die gesamte Mannschaft vor den Kopf gestoßen, die eigene Unternehmenskultur beschädigt und die Mitbestimmung mit Füßen getreten." 

Die IG BCE hat eine politische Initiative für eine bessere Corporate Governance gestartet.

Reform der deutschen Unternehmensmitbestimmung

Die Schnelligkeit und fehlende Kompromissbereitschaft des Continental-Managements, die auch den Betriebsräten keine Möglichkeiten lässt, Alternativen zu Standortschließungen mit Hilfe von externen Beratungsgesellschaften zu untersuchen, hat die sehr sozialpartnerschaftlich eingestellte IG BCE hart getroffen. Am 10. November 2020 startete sie daher eine politische Initiative für eine bessere Corporate Governance und nachhaltige Konfliktlösung in Aufsichtsräten großer Kapitalgesellschaften. Sie fordert, dass bei wichtigen Entscheidungen (z. B. Änderung der Rechtsform in eine SE, Sitzverlagerung ins Ausland, Unternehmensverkäufe, Fusionen, Übernahmen, Werksschließungen, Massenentlassungen) im Falle eines Konflikts zwischen der Kapital- und der Arbeitnehmerbank im Aufsichtsrat ein neutraler Schlichter eingesetzt wird, auf den sich das Gremium zuvor mit Zweidrittelmehrheit geeinigt hat. Der Einigungsvorschlag des Schlichters soll nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Aufsichtsrat abgelehnt werden können. Am 27. Oktober 2020 hatte auch die SPD-Bundestagsfraktion ein Positionspapier zum Ausbau der Mitbestimmung vorgelegt.

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